Die Bibel als Ausgangspunkt
Thesen zu einer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit der Kirchen
Eine antisemitismuskritische biblische Theologie braucht eine Bibelhermeneutik, die ohne das Alte Testament oder das Judentum als Negativfolien für das eigene Verständnis auskommt. Darauf weisen Christian Staffa und Marie Hecke in einem Fachartikel hin und schlagen konkrete Ansatzpunkte für ein Umdenken vor.
Eine Religionslehrerin recherchiert Unterrichtsmaterialien zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament und stößt dabei auf einen Text aus dem „Bibel-Entdeckerbuch“ des Bibellesebundes und der Deutschen Bibelgesellschaft. Die Geschichte, vorgesehen für Kinder ab acht Jahren: Der Sohn eines orthodoxen jüdischen, reichen Mannes entdeckt trotz Leseverbot des Vaters das Neue Testament. Er spürt die Befreiung von der Last des Gesetzes, entzweit sich mit dem Vater und verkündet nun diese frohe Botschaft unter den Juden.
Dieses sicher eher extreme Beispiel auf einer allerdings viel besuchten Seite macht die Notwendigkeit einer Bibelhermeneutik deutlich, die weder das Alte Testament noch das Judentum als Negativfolie für das eigene biblische Verständnis braucht oder benutzt. Ein solches anderes, wertschätzendes Verständnis hält mehrere Deutungen biblischer Texte aus oder bejaht sie und lernt von ihnen. Mit ihm lässt sich das antisemitismuskritische Potential biblischer Theologie – also der Rezeption und Auslegung biblischer Texte – heben. Diese These entwickeln die Theologin Marie Hecke und der Autor dieser Zeilen in einem Beitrag in der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie.
Dieses neue Verständnis ist nicht nur deshalb nötig, weil der Antisemitismus sich wieder sehr deutlich öffentlich sichtbar macht, sondern auch, weil dieser Zugang zu den Schriften, diese Hermeneutik Christ*innen den eigenen Glauben schärft und authentischer, lebendiger und offener macht. Diese Hermeneutik versucht, expliziten und impliziten Antijudaismen zu begegnen. Denn diese sind eben nicht genuiner Bestandteil christlichen Glaubens, aber doch der Kirchengeschichte.
Deshalb muss kirchliche antisemitismuskritische Bildungsarbeit nicht nur gefordert, sondern auch wirklich geleistet werden. Sie ist eine zentrale Aufgabe kirchlicher Bildungsarbeit der Gegenwart.
Für eine Hermeneutik der Ambivalenz
Die Bibel zu einem zentralen Motiv in dieser Art Bildungsarbeit zu machen, ist naheliegend, denn an den Texten wie auch an ihrer Rezeption lassen sich die Motive antijüdischer Lesarten bearbeiten und eine Hermeneutik der Ambivalenz einüben.
„Der christliche Antijudaismus stellte Elemente für eine Ideologie bereit, die im Antisemitismus übernommen werden konnten“, lautete schon vor Jahren die schonungslose Diagnose des katholischen Theologen Rainer Kampling. Für die christliche Theologie und Religionspädagogik – ganz gleich ob schulisch oder außerschulisch – gilt es, diese „christliche Grundlegung“ des modernen Antisemitismus ernst zu nehmen. Darüber hinaus aber ist die Bearbeitung der antisemitischen Grundlegung des Christlichen für das christliche Selbstverständnis von zentraler Bedeutung.
Die Spannungen zwischen biblischer Zusage und weltlicher Realität, Geschehenem und Ausstehendem wurden und werden nicht selten „am Juden“ aufgelöst. Das Uneingelöste wurde zur Schuld „des Juden“ erklärt.
Das nennen wir Projektion oder auch Delegation in einer dualen Struktur, in der das Gute dem Selbstbild zugesprochen wird und das Negative dem Anderen. Dieser dualen Gut/Böse-Struktur gilt es zu wehren. Deshalb haben wir drei Ansätze skizziert, die dazu helfen:
- Zweifach statt einfach: Der Ausgang des Ersten Testaments ist kein einfacher, sondern ein zweifacher – das Erste Testament hat im rabbinischen Judentum und im Christentum eine doppelte Nachgeschichte. Didaktisch-methodisch heißt das, die zweifache Nachgeschichte je altersgerecht verständlich zu vermitteln, so dass sie nicht nur akzeptiert, sondern als Bereicherung und Teil der eigenen Glaubensgeschichte wahrgenommen wird.
- Mehrdeutlich statt eindeutig: Die Bibel ist, so der Alttestamentler Jürgen Ebach, nicht eindeutig, sondern mehrdeutlich – eine Wortneuschöpfung, die als Variation von „mehrdeutig“ gelesen werden kann, aber auch als „Vorsatz, das in den Texten Bezeichnete noch mehr deutlich werden zu lassen“. Denn biblische Worte und Bilder haben je nach Perspektive der Auslegenden und ihrer Auslegungsgemeinschaft mehr als einen Sinn und eine Auslegungsmöglichkeit.
- Ineinander statt nacheinander: Das historische Nacheinander von Altem und Neuem Testament muss für eine antisemitismuskritische Bibeldidaktik in ein theologisches Ineinander transformiert werden.
Diese drei Aufmerksamkeitskriterien bilden die Ansatzpunkte für eine „Hermeneutik der Ambivalenz“. Sie ist Gegenmodell zu einer „Hermeneutik der Projektion“ und damit Voraussetzung für antisemitismuskritische Bibeldidaktik und kirchliche Bildungsarbeit.
Eine solche Hermeneutik liebt die Ambivalenz im wortwörtlichen Sinne: Sie ist eine, die beide (lat. ambo) gelten (lat. valere) lässt und sich – einem Vexierbild gleich – die Ambiguität zu eigen macht und aus ihr schöpft. Sie traut und mutet sowohl den Pädagoginnen und Pädagogen als auch den Rezipierenden sowie den biblischen Texten selber das Zweifache, das Ineinander und die Mehrdeutlichkeit der Schrift nicht nur zu, sondern nutzt sie produktiv für das Bildungsgeschehen. Zudem ermöglicht sie darin selber das Ambivalenzen-Lernen und leistet damit einen demütigen Beitrag zum Arbeiten an einer mehrdeutlichen christlichen Identität.
Der Autor Christian Staffa ist Studienleiter für Demokratische Kultur und Kirche. Den Artikel in der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie hat er gemeinsam verfasst mit Marie Hecke, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neues Testament und theologische Geschlechterforschung der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel.
Erschienen am 09.08.2021
Aktualisiert am 11.08.2021