Historiker Nolte: "Die Ungeduld mancher Aktivisten ist mir zu groß"
epd-Gespräch: Corinna Buschow
Berlin (epd). Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit (3. Mai) haben Kulturinstitutionen zur „Woche der Meinungsfreiheit“ aufgerufen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht der Historiker Paul Nolte über Freiheiten in der Pandemie, eine vermeintliche „Cancel Culture“ und Debattenkultur in Corona-Zeiten.
epd: Herr Nolte, Kulturinstitutionen haben ab dem 3. Mai zur „Woche der Meinungsfreiheit“ aufgerufen. Sie haben sich immer wieder beunruhigt über die Entwicklung demokratischer Grundrechte in der Corona-Pandemie geäußert. Gilt das auch für die Meinungsfreiheit?
Nolte: Viele Freiheiten sind in der Pandemie beschränkt, und wir sollten sehen, dass wir diese Freiheiten möglichst schnell zurückbekommen. Das gilt beispielsweise für die Bewegungsfreiheit in Deutschland und Europa, die sich nicht nur im Hedonismus des Mallorca-Urlaubs ausdrückt. Für die Meinungsfreiheit sehe ich diese Gefahr aber nicht. Ich finde, es wird sogar ziemlich heftig debattiert. Regierungshandeln wird kritisch auf den Prüfstand gestellt, von Gerichten und der Zivilgesellschaft.
epd: Es gibt also keine Cancel Culture?
Nolte: Den Begriff finde ich unglücklich, es gibt aber ein damit bezeichnetes Phänomen, das durchaus real ist. Es gibt eine neue Sensibilität gegenüber der Geschichte und dem, was daraus folgt. Das schlägt sich nieder in Debatten über historische Schriften, die Antisemitismus enthalten, oder Straßennamen. Diese Debatten sind wichtig. Sie schießen mitunter aber auch übers Ziel hinaus.
epd: Wie meinen Sie das?
Nolte: Vieles daran folgt einem aktivistischen Handlungsmuster, mit Absolutheit und Rigorismus. Aus historischer Erfahrung wissen wir: Das ist oft nötig, damit sich etwas bewegt. Aber wenn die aktivistische Position umstandslos zur neuen Norm erklärt wird, droht Gefahr für die Freiheit. Als Historiker finde ich es bedenklich, gegenüber vergangenen Überlieferungen mit einem moralischen Richturteil aufzutreten und den Versuch zu unternehmen, diese Vergangenheit in der Konsequenz gar nicht mehr vorkommen zu lassen. Darin lauert eine Selbstgerechtigkeit der Gegenwart.
epd: Um es an einem Beispiel festzumachen: Wie bewerten Sie die Forderung nach einer Umbenennung der „Mohrenstraße“ in Berlin?
Nolte: Die Forderung finde ich legitim, ich würde mich ihr aber nicht anschließen. In meinen Augen könnte die Straße weiter so heißen. Problematisch werden für mich diese Debatten, wenn diejenigen, die sich gegen diese Forderung stellen, Rassisten genannt werden. Das ist ein Muster der Ausgrenzung Andersdenkender. Das kann man auch in Debatten über Genderrechte und Homosexualität beobachten. Nicht jeder Skeptiker der Homoehe ist schon „homophob“. Wir müssen sehen, dass diese Debatten eine unglaubliche Dynamik haben. Die Ungeduld mancher Aktivisten ist mir da zu groß. Wir haben allein in den letzten zehn Jahren grundlegende gesellschaftliche Veränderungen erlebt und auch rechtlich anerkannt. Nichts ist falscher als der Eindruck, wir würden auf der Stelle treten. Wir sollten also geduldiger sein mit Menschen, die mehr Zeit brauchen, diesen Wandel zu verstehen und zu verdauen.
epd: Wie erleben Sie diese Debatten und diese Ungeduld an Ihrer Universität?
Nolte: Die Freie Universität Berlin ist in Deutschland ein Hotspot und in vielem Avantgarde, was beispielsweise die Gendersprache betrifft. Das ist spannend. Zugleich sind Studentinnen und Studenten sehr dankbar, wenn man das thematisiert und ihnen Raum für Reflexion gibt. Es gibt schon Unsicherheiten bei Studierenden, die aus Passau kommen und irritiert sind, dass man den Genderstern bei uns nicht nur schreibt, sondern auch spricht. Größtmögliche Liberalität des Sprechens ist mir wichtig. Eine Zensur, wie sie manchmal behauptet wird, gibt es da jedenfalls bei uns nicht. Aber bei mir auch keine schlechtere Note für das generische Maskulinum.
epd: Wurden Sie schon einmal gecancelt?
Nolte: Nein, kann mich nicht erinnern.
epd: Hat die Corona-Pandemie Debatten verändert?
Nolte: Eine Zeit lang schien es, als würde zu wenig diskutiert. Das ist nicht mehr so. Es wird heftig und kontrovers debattiert. Dazu gehören auch mal polemische Positionen von Künstlern und Intellektuellen. Diese Pandemie findet nicht nur jetzt statt, und im Herbst wird der Schalter auf „normal“ gestellt. Sie wird Politik und Alltagsverhalten über Jahrzehnte prägen. Deswegen sind heftige Diskussionen mehr als angebracht. Dabei sollten die Rollen klar bleiben. Künstler und Aktivistinnen schießen übers Ziel hinaus. Und Virologen sind keine Politiker. An Christian Drosten beeindruckt mich, dass er das nach kurzer Zeit, in der er sogar zur Popikone der Pandemie wurde, verstanden hat. Dagegen ist der berechtigte Kern der Kritik an Karl Lauterbach, dass er als Arzt und als Politiker zugleich sprechen will. Da wünsche ich mir mehr Rollentrennung.
epd: Sie sind Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin und haben vor einem Jahr noch beklagt, dass die Kirchen die Pandemiemaßnahmen unkritisch hinnähmen. Wie nehmen Sie die Kirchen heute wahr?
Nolte: In der diesjährigen Debatte um die Ostergottesdienste, die die Kirchen nicht einfach wieder ausfallen lassen wollten, hatte sich schon etwas verändert. Diese eigenständige Positionierung habe ich als wohltuend empfunden. Zumal kein Missbrauch betrieben wurde mit dem Recht, Gottesdienste zu feiern.
epd: Trotzdem sind die Kirchen als Stimme in der Öffentlichkeit in der Pandemie kaum zu hören, anders als beispielsweise auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung vor wenigen Jahren. Teilen Sie den Eindruck?
Nolte: Ja, das teile ich. Es hängt vielleicht mit der Unsicherheit zusammen, wozu man sich äußern sollte. Es ist nicht so deutlich, wo die Expertise der Kirche in einer Pandemie liegt. Die ethischen Fragen sind komplizierter. Ein Grundproblem ist auch die theologische Deutung dieser Krise. Da herrscht eine große Hilflosigkeit. Auch säkulare historische Ereignisse wurden theologisch gedeutet: der Fall der Mauer und die deutsche Einheit als Gnade Gottes zum Beispiel. Die Geschichtstheologie scheint hier am Ende angelangt. Und natürlich ist es einfacher, positive Ereignisse theologisch zu deuten. Die Gnade Gottes ist etwas anderes als die Strafe Gottes. Das Handeln Gottes in der Pandemie ist unbegreiflich - und öffentlich schwer zu kommunizieren.
epd: Der Staat, genauer Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, hat beispielsweise die Initiative für eine Gedenkfeier für die Toten ergriffen…
Nolte: Das deutsche Staatsoberhaupt, besonders evangelischer Konfession, ist so etwas wie der oberste Säkularbischof der Nation. Das gilt nach Heinemann, Weizsäcker und Rau auch für Steinmeier. Diese Säkularseelsorge betreibt er sehr gut, nur gräbt er damit den Kirchen eben auch ein Stück weit das Wasser ab.
epd: Ende Juni scheiden Sie als Präsident der Evangelischen Akademie aus. Warum geben Sie das Amt auf?
Nolte: Das Amt ist nicht bemessen wie Wahlämter. Das heißt auch, dass der schwarze Peter des Aufhörens bei einem selbst liegt. Ich habe das Amt jetzt fast zwölf Jahre ausgeübt, bei meinem Vorgänger waren es zehn. Und ich fand, es ist nun gut und ich würde mir wünschen, dass in der Akademie auch wieder neue Perspektiven, gerne auch von Jüngeren, zur Geltung kommen, so wie das mit unserer neuen Direktorin bereits gelungen ist.
epd co cez
Erschienen am 03.05.2021
Aktualisiert am 25.06.2021