„Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht alles regeln können“
Rückblick auf das Online-Fachgespräch „Geschützt statt einsam“ am 14. Dezember
Zwei „ethische Imperative“ machte Constanze Giese im Blick auf die Bewohner*innen von Altenpflegeeinrichtungen aus: Zum einen den Schutz vor Versorgungsmängeln (der angesichts des derzeitigen Personalmangels ein „großes Problem“ darstelle) und den „Schutz vor Schäden durch soziale Deprivation“.
In diesem Zusammenhang betonte die Professorin für Ethik und Anthropologie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München im Studiengang Pflegemanagement/Pflegepädagogik die Bedeutung des Freiheitsrechts, das prinzipiell auch einschließe, dass diese eine Einrichtung verlassen dürfen. Dieses Recht sei beim ersten Lockdown im Frühjahr oft eingeschränkt gewesen. „Mein Eindruck ist, dass wir manche Regelungen für uns selbst nicht toleriert hätten“, sagte sie bei der Online-Tagung „Geschützt statt einsam. Corona-Konzepte in Pflegeeinrichtungen“ am 14. Dezember 2020.
Sehr oft handele es sich bei den in Pflegeeinrichtungen lebenden um Menschen, „die nicht verstehen, dass sie ihr Zimmer nicht verlassen dürfen“. Hier sieht sie die Gefahr einer Zunahme an freiheitsentziehenden Maßnahmen. „Wir müssen uns immer wieder fragen: Was heißt gute Pflege unter diesen Umständen?“ Für die Betroffenen sei die Einrichtung ein Zuhause, kein Ort zur „Verwahrung“. Besonderes Augenmerk ist Giese zufolge auf Situationen der „Nicht-Nachholbarkeit“ wie der Abschied von Angehörigen zu legen. „Wir müssen alles daransetzen, das dies möglich ist“. Ein kompletter Besuchsstopp, wie er inzwischen vereinzelt wieder gelte, sei zu vermeiden.
Im Blick auf das Personal in Pflegeeinrichtungen unterstrich die Theologin und Pflegewissenschaftlerin, wie wichtig es sei, seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten, „wenn wir am Ende des Lockdowns noch Pflegepersonal haben wollen“. Dafür sei es wichtig, „Moral Distress“ durch Dilemma-Situationen zum Beispiel beim Umgang mit würdeverletzenden Zwangsmaßnahmen an Bewohner*innen zu vermeiden. Klare Regeln und eine Absicherung des Personals in schwierigen Situationen seien notwendig. Das betreffe insbesondere mögliche temporäre Umzüge der Bewohner*innen innerhalb einer Einrichtung oder die so genannte Arbeits-Quarantäne. Unklarheiten sorgten hier für eine zusätzliche Belastung des Personals.
Die Aufgabe der Leitenden in den Altenpflegeeinrichtungen sieht Constanze Giese darin, – grundsätzlich, aber insbesondere im Umgang mit infizierten Bewohner*innen - Handlungsspielräume zu schaffen. Wichtig sei eine „klare und abgestimmte Kommunikation der Behörden“. Ein „Dauerbeschuss“ durch ständig neue Regelungen sei zu vermeiden. Insgesamt dürfe der Infektionsschutz zwar nicht vernachlässigt werden, gleichzeitig müsse die Isolation von Menschen vermieden werden. „Nicht alles geht virtuell genauso gut“, betonte sie im Blick auf „die Verleiblichung unseres Bedarfs nach Beziehung“.
Rechtsanwalt Professor Dr. Bernd Schlüter von der Katholischen Hochschule Berlin legte den rechtlichen Rahmen und auch die Grenzen rechtlicher Instrumente dar. In einem kurzen historischen Rückblick zeigte er, wie sich Gemeinwesen und Staat seit Ende des Mittelalters langsam in einer rationalen Form des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung annehmen und spätestens seit Bismarcks modernen Formen des Sozialstaats in einer Doppelrolle auftreten: Als Beschützer von Gesundheit und als Gewährleister sozialer Dienste wie der Pflegeheime. Nach dem hoch entwickelten heutigen Grundrechtskonzept des Bundesverfassungsgerichts seien die Grundrechte aller Beteiligten, insbesondere auch der Pflegekräfte und der Bewohner*innen, aber auch der freien Träger und der Familienangehörigen gegeneinander abzuwägen. Die Wertigkeit des Schutzgutes und der Grad ihrer Gefährdung spielten eine entscheidende Rolle. Dabei sei der Schutz von Leib und Leben ein hohes Gut aber nicht pauschal immer höher als die Freiheits- und Umgangsrechte einzustufen. Beide seien im Lichte des Schutzes der Menschenwürde zu bewerten. Auch dürften die Ziele der Sozialgesetzbücher, allen voran die soziale und kulturelle Teilhabe, nicht unter den Tisch fallen. Im Rahmen des Spielraums, den staatliche Regelungen den freien Trägern ließen und lassen müssten, seien diese gefordert, ihre Mitarbeitenden durch möglichst verständliche und allseits akzeptable Besuchskonzepte zu entlasten. Dabei sollten auch der Heimbeirat und die Angehörigen sowie die Mitarbeitervertretungen nicht vergessen werden. All dies setze wiederum auskömmliche öffentliche Mittel und Personalressourcen und gute Test- und Impfkonzepte voraus. Die Verbände könnten hier mit Musterkonzepten gute Unterstützung leisten. Wo es zu Isolierungen kommen sollte, die von Bewohner*innen oder Angehörigen als inakzeptabel empfunden würden, bliebe als letztes Mittel die kurzfristige Kündigung des Heimvertrages und die Installation eines neuen Wohn- und Pflegesettings. Innerhalb des Rahmens der staatlichen Einschränkungen und der finanziellen Möglichkeiten seien Bewohner*innen und Angehörige stets frei über ihre Lebensweise zu entscheiden, ein Heim sei kein Gefängnis. Staat und freie Träger seien nun besonders gefordert, die weltanschaulichen und konfessionellen Grundsätze und Standards zu beachten, die im Sozialgesetzbuch nicht nur vorgesehen, sondern auch besonders geschützt seien. Dringender Reformbedarf bestehe u.a. bei den Zuständigkeitsregeln und der Vielstimmigkeit der Gesundheitsämter und bei der Mindestpersonalbemessung in Pflegeheimen, die endlich gesetzlich geregelt gehöre.
Auch Bernhild Birkenbeil von der SOZIAL-HOLDING der Stadt Mönchengladbach skizzierte den Spagat der Altenpflegeeinrichtungen zwischen dem „Auftrag, vor Erkrankung und Tod zu schützen“ und dem zweiten Auftrag, „psychosoziale Folgen der Pandemie zu mindern und Teilhabe zu ermöglichen“. Zur Unterstützung der ersten „Schutzebene“ gehörten entsprechendes Material, Schulungen, Screening, Hygiene- und Besuchskonzepte und eine Steuerung des Zugangs zu den Einrichtungen. Im Blick auf die soziale Teilhabe von Bewohner*innen seien feste Bezugsgruppen, geschützte Besuchsbereiche und digitale Kommunikationsformen sinnvoll. Besuche in der Privatsphäre eines Zimmers müssten nach wie vor möglich bleiben; Menschen, die die Einrichtung verlassen wollten, müssten über die Risiken aufgeklärt und gut beraten werden. Allerdings könnten nicht alle Risiken ausgeschlossen werden, unterstrich Birkenbeil.
Im Blick auf das Pflegepersonal berichtete sie von einer „dauernden Anspannung“. Sie habe Sorge, dass ein guter Umgang zum Beispiel mit Demenzkranken in Quarantäne „uns nicht mehr gelingt“. Auch sie machte deutlich, dass für klare Regelungen und gute Arbeitsbedingungen in der Pflege gesorgt werden müsse, „wenn wir weiter Menschen für diese Arbeit gewinnen wollen“.
Von einem Fall, der sie „besonders bewegt“ hat, berichtete Barbara Eschen, die Direktorin des Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz. Im ersten Lockdown habe es in einer Altenpflegeeinrichtung in ihrem Zuständigkeitsbereich so viele Corona-Fälle bei Bewohner*innen und Personal gegeben, dass eine optimale Versorgung kaum noch zu gewährleisten gewesen sei. Erst im Nachhinein hätten die Beteiligten das Erschrecken, die Erschöpfung und die Trauer darüber realisiert, „wie einsam die Bewohnerinnen und Bewohner gewesen sind“. Bei vielen Bewohner*innen, insbesondere bei an Demenz erkrankten, hätte sich der jeweilige Zustand in dieser Zeit deutlich verschlechtert.
Eschen begrüßte, dass - nachdem in der ersten Phase im Frühjahr der Gesundheitsschutz Vorrang gehabt habe - nun die Tendenz bestehe, psychosoziale Faktoren mit einzubeziehen. Die vom Robert-Koch-Institut propagierten Maßnahmen könnten „flexibel und mit Augenmaß“ umgesetzt werden. Auch Eschen unterstrich, dass in der Pandemie „kein hundertprozentiger Ausschluss von Infektionen zu gewährleisten ist“, erst recht nicht, wenn es keine hundertprozentige Isolation geben könne. „Wir müssen annehmen, dass die Pandemie Leid und vorzeitigen Tod bringt“, sagte sie. „Unsere Optionen sind begrenzt. Wir können das nicht vermeiden, aber die Bibel kann Trost bieten.“
Wichtigster Aspekt ist aus ihrer Sicht, dass es eine gesellschaftliche Diskussion darüber gibt, wie schwierig die Situation ist. Und dass „wir annehmen, dass wir nicht alles regeln können“.
Erschienen am 18.01.2021
Aktualisiert am 18.01.2021