„Das Nein schickt mich auf einen Weg“
Was bedeutet es heute, „Kreisauer“ zu sein? Fragen an Pater Klaus Mertes SJ
An Pfingsten vor 80 Jahren traf sich erstmals der Kreisauer Kreis, um ein demokratisches Nachkriegsdeutschland zu entwerfen. Zum Jahrestag fragen wir, was das Erbe der Widerstandsgruppe für die Gegenwart ist. Inwieweit sind wir als Gesellschaft heute über ideologische Gräben hinweg dialogfähig? Anders gefragt: Können wir Kreisau? Fragen an Pater Klaus Mertes SJ, der die Veranstaltung am 1. Juni moderiert.
Die verfügbaren Präsenzplätze sind bereits ausgebucht. Sie können die Veranstaltung aber per Livestream auf YouTube oder Live auf Facebook verfolgen.
Wenn wir als Kreisauer DNA sehen, dass es ihnen gelang, Trennendes zu überwinden und sich gemeinsam auf den Weg zu neuen Zukunftsvisionen zu machen: Was würden die Kreisauer heute tun?
Pater Klaus Mertes SJ: Kreisauer sein heißt, mit einem „Nein“ anfangen, mit einem Punkt, an dem man sagt „Da mache ich nicht mehr mit.“ Und dann heißt es, in die Mitte des Konfliktes zu gehen und sich den Pfeilen von allen Seiten auszusetzen. Nur dann kann man Frieden stiften. Man kann kein Kreisauer werden, ohne dass man vorher in den Konflikt gegangen ist. Das fing bei den Kreisauern schon bei den eigenen Familien und Freundschaften an: Sich nach Kreisau zu begeben, bedeutete ja nicht: „Wir setzen uns mal alle zusammen und reden.“ Die Tatsache, dass man sich da hinsetzte, bezahlte man ja zunächst einmal mit dem Verlust von Freundschaften und mit Entfremdungen innerhalb der eigenen Familie, weil eben auch da die Anschauungen gespalten waren.
Mit einem Neinsagen und sich angreifbar machen fängt es an. Aber Kreisau geht darüber hinaus.
Mertes: Ja, und der Selbstzweifel gehört übrigens auch immer zum Nein: Kreisauer sein bedeutet nicht, schon zu wissen, was die Lösung ist. Das Einzige, was ich aber weiß, ist: „So nicht!“. Ich fange mit dem Nein an und das Nein schickt mich auf einen Weg. Ich habe noch nicht die Lösung, wie es anders werden soll. Aber ich verteidige einen Wert hinter dem „Nein“, zu dem ich „Ja“ sage. Und das kann sein die Würde des Menschen, meine eigene Würde oder die Wahrheit gegen die Lüge.
Gerade in ihrer Verstrickung eignen sich die Kreisauer Biografien in der heutigen Zeit, die so gerne in „Wir“ und „Die“ unterscheidet. Übrigens hat sich Kreisau zum 80. Jahrestag der Kreisauer Gespräche das Thema „Dialogfähigkeit in Zeiten bedrohter Demokratien“ gesetzt.
Mertes: Lasst uns in den aktuellen Diskursen aufmerksam sein, wenn wir wieder mit moralisierenden „Wirs“ unterwegs sind, wenn wir uns schon mit unseren Etiketten auf die gute Seite stellen und bereits den Etiketten die Macht geben. Für mich heißt das auch, das polarisierende „klebrige Aber“, wie ich es nenne, zu vermeiden, das gerne in so Sätzen kommt wie „Ich bin ja kein Rechtsradikaler, aber …“. Hier liegen für mich die klaren Botschaften des Widerstandes.
Zur Person: Pater Klaus Mertes SJ ist Mitglied des Kuratoriums der Stiftung 20. Juli und Superior des Ignatiushauses, der Kommunität der Jesuiten in Berlin. Als Rektor des Berliner Canisius-Kollegs löste er 2010 mit einem Brief an frühere Schüler die Aufdeckung jahrzehntelangen, systematischen sexuellen Missbrauchs am Kolleg und in der katholischen Kirche aus.
Zu der Veranstaltung am 1. Juni lädt die Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau zusammen mit der Stiftung 20. Juli 1944 und in Kooperation mit der Evangelischen Akademie zu Berlin ein. Weitere Partner sind die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung (Polen), die Kreisau-Initiative e.V. und die Stiftung Adam von Trott, Imshausen e.V.
Das Interview führte Eva-Maria McCormack für den Jahresbericht Krzyżowa-Kreisau 2021. Die hier veröffentlichten Auszüge verwenden wir mit freundlicher Genehmigung der Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau.
Erschienen am 25.05.2022
Aktualisiert am 01.06.2022