Grenzen der Moral
Max Oliver Schmidt analysiert militärisches Handeln im Blick auf Flüchtende im Mittelmeer
Das Wort „Push-Back“ ist zum Unwort des Jahres 2021 gekürt worden. Gleichzeitig werden stets neue Menschenrechtsverletzungen durch die EU-Agentur Frontex bekannt, die Menschen gewaltsam von Europa fernhält. Wieso kann an den EU-Außengrenzen so gehandelt werden? Max Oliver Schmidt über Militär und Moral.
In einer Gesellschaft, die sich wie die unsere als demokratisch und pluralistisch definiert, erscheint es unmoralisch und heuchlerisch, menschenverachtende Praktiken zur Zurückschiebung von Flüchtenden auch nur zu dulden. Zumal sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten gleichzeitig die Wahrung der Menschenrechte groß auf die Agenda schreiben. Trotzdem sind es EU-Agenturen wie Frontex, nationale Grenztruppen oder militärische Marinen, die Push-Backs durchführen oder flüchtende Menschen in Seenot schlichtweg nicht retten. Flüchtenden wird somit Leid und Schmerz zugefügt und sie werden daran gehindert, Asyl in Europa zu erbitten. Besonders im Blick auf über das Mittelmeer flüchtende und dabei in Seenot geratende Menschen stellt sich die Frage, weshalb nicht selbstverständlich alle von ihnen gerettet werden. Die einfache Antwort wäre: Die ausführenden Organisationen können grundsätzlich nicht moralisch handeln. Gerade beim Militär gilt doch: Wo das Töten zum Auftrag werden kann, ist Moral fern. Oder? Tatsächlich gibt es aber auch Fälle, in denen Rettungseinsätze von Marinen durchgeführt oder unterstützt werden. Können militärische Organisationen also doch moralisch handeln?
Theoretisch ist die Frage kaum zu lösen; die Wissenschaft kommt zu keinem einheitlichen Fazit. Der Soziologe Zygmunt Baumann beispielsweise ist der Ansicht, dass jede formale Organisation jenseits von Moral handelt und entscheidet. Auch Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass bürokratische Organisationen keine Moral zulassen. Hingegen gehen Autoren wie Hans Geser davon aus, dass Organisationen aufgrund ihrer Entscheidungsautonomie besser für die Bearbeitung von normativen, also auch moralischen Erwartungen geeignet sind als Individuen.
Was geschieht also bei militärischen Akteuren auf dem Mittelmeer? Wieso handeln diese so unterschiedlich? Militärische Organisationen können Werte vertreten, gleichzeitig werden bestimmte normative Erwartungen durch die Politik oder die Zivilgesellschaft an sie herangetragen. Diese durchaus auch widersprüchlichen Normen und Werte müssen sie in Organisationsentscheidungen übersetzen und damit als Optionen des Handelns wählen. Solche lauten in diesem Falle: Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingsbooten oder Nichtbeachtung - oder Push-Back.
Besonders die zweite Option, die Nichtbeachtung, kann durchaus nicht intendiert sein. Organisationen haben immer wieder „blinde Flecken“ (im Sinne von Niklas Luhmann), die dazu führen, dass bestimmte Situationen erst gar nicht als von ihnen zu bearbeitende Probleme erkannt werden. Diese „blinden Flecken“ ergeben sich aus einer eingeschränkten Beobachtungs- und Beschreibungsfähigkeit der Organisationsumwelt: Wenn die Rettung von Flüchtenden weder per Auftrag, noch durch Erfahrung, noch durch irgendeinen regelnden Code vorgesehen(!) ist, scheinen Situationen, die ein solches Handeln erforderlich machen könnten, nicht entsprechend auszudeuten zu sein. Was nicht durch Codes zur Beschreibung der Organisationsumwelt festgeschrieben ist, lässt bestimmte Entscheidungsoptionen nicht als im Bereich des Möglichen erscheinen.
Allerdings war und ist die konsequente Seenotrettung von flüchtenden Menschen auch politisch nicht gewollt, sodass „blinde Flecken“ bisweilen in Entscheidungsprozessen programmiert sind. Das wirklich Unmoralische dabei ist, dass der Push-Back oder das Sterben-Lassen von Menschen in Seenot überhaupt Optionen darstellen.
Gleichzeitig wurde unmoralisches Handeln wie Push-Backs oder die Unterlassene Hilfeleistung, die beide in der gesamten EU und global international gegen geltendes Recht verstoßen, lange Zeit nicht sanktioniert, da kein Legitimationsdruck auf die staatlichen militärischen Akteure wirkte. Push-Backs oder Unterlassene Hilfeleistungen waren für die Allgemeinheit kaum sichtbar. So konnte es zu Handlungen kommen, die einen Bruch mit moralischen Vorstellungen der europäischen Gesellschaften bedeuteten. Erst Nichtregierungsorganisationen wie Alarm Phone haben diese „blinden Flecken“ in der öffentlichen Wahrnehmung enttarnt und ein Bewusstsein für die Menschenrechtsverletzungen erzeugt. Damit haben sie ein moralisches Publikum geschaffen, das militärische Handlungen gegen Flüchtlinge auf hoher See bewertet und moralische Erwartungshaltungen an das Militär heranträgt. Erst zivilgesellschaftliche Akteure also haben einen gewissen Legitimationsdruck militärischen Handelns erzeugt und unmoralische Aktionen sichtbar gemacht.
Weiterhin stellen die NGOs den Militärs eine „Beobachtung zweiter Ordnung“ (Luhmann) zur Verfügung, die gegen die „blinden Flecken“ wirken kann, die - das Militär als Organisation und ihre Mitglieder individuell - an den Tag legen. Sie tun dies, indem sie den Marinen ihre Codes zur Beobachtung der Umwelt aufzeigen und auf diesem Wege humanitäre Hilfe und Flüchtlingsschutz als Handlungsoptionen in den Fokus rücken. Während die Marine ein Flüchtlingsboot beispielsweise mit Codes wie „illegale Einreise“ oder „Schmuggler“ einordnet, beschreiben die Seenotretter es als „humanitären Notfall“ oder „Asylsuchende“.
Oftmals sind es auch die politischen Aufträge des Grenzschutzes und der Abschottung, die eine Rettung als Entscheidungsoption für militärische Organisationen gar nicht erst zulassen. Erst durch das Handeln von NGOs konnte diese Möglichkeit der Situationsdeutung in das Blickfeld der militärischen Organisationen geraten. Doch damit kommt es zwangsläufig zu Widersprüchen: Der Rettungsauftrag widerspricht dem ursprünglichen Auftrag der Abschottung. Wie können militärische Organisationen mit solch widersprüchlichen Erwartungen umgehen? Können sie sich aus ihrem Auftrag befreien und ausschließlich moralisch gut handeln? Oder müssen sie moralisch falsch handeln und den Grenzschutzauftrag erfüllen?
Diese Widersprüche muss jede militärische Organisation in klare Entscheidungen übersetzen, um (konsistent) handeln zu können. Während viele Menschen die Rettung von Menschenleben als die einzig moralisch gute Möglichkeit des Handelns ansehen, stellen die entsprechenden Situationen für die betroffenen Organisationen Entscheidungsdilemmata dar. Hinzu kommt, dass sich das militärische Handeln in einem Bereich vollzieht, in dem unterschiedliche Rechtsregime wie einerseits das Non-Refoulement-Gebot der Genfer Flüchtlingskonvention oder das international anerkannte Seenotrettungsreglement aber auch ausschließende nationalstaatliche und supranationale Grenzregulierungen aufeinandertreffen. Diese Regelkollision kann Entscheidungsdilemmata verstärken. Die Berücksichtigung eines Rechtsregimes kann jedoch auch dazu führen, dass moralisch gute Handlungen zu legitimieren sind. Vor allem das Seenotrettungsreglement gebietet es, Menschen zu retten; das Non-Refoulment-Gebot verlangt, Flüchtende nicht zurückzuschieben. Beide Regelsysteme legitimieren daher Rettungshandeln und verbieten genau das Handeln, das durch die supra(nationalen) Grenzregime oftmals eingefordert wird. Während NGOs sich auf das Non-Refoulment-Gebot und die Seenotrettungsreglements berufen und ihr Handeln zu Recht als legitim und legal bezeichnen, können Küstenwachen sich auf Grenzreglements oder Rücknahmeabkommen berufen. Wenn sie dies tun, folgen sie organisationalen Entscheidungsprogrammen, nach denen der jeweilige politische Auftrag – Grenzschutz bzw. Abschottung – höher bewertet wird als das Recht. Und dies, obwohl auch sie rechtlich an Seerechtsreglements gebunden wären, also Menschen aus Seenot retten müssten.
Militärische Organisationen entwickeln sehr unterschiedliche Strategien, um mit solchen Dilemmata umzugehen.
Neben den illegalen Push-Backs, bei denen Boote gehindert werden EU-Territorium zu erreichen, bedienen sich einige Angehörige militärischer Organisation auch bestimmter Vermeidungsstrategien, die für die Öffentlichkeit meist kaum sichtbar sind: Sie verzögern Entscheidungen, sind in entscheidenden Momenten nicht anwesend, absolvieren „Dienst nach Vorschrift“ oder schieben Verantwortlichkeiten auf andere Instanzen. So können Marineschiffe beispielsweise auf Funksprüche der MRCC und der NGOs nicht reagieren oder es in einer kritischen Situation dabei belassen, sich beobachtend im Hintergrund zu halten, statt einzugreifen. Auf diese Art können Marineschiffe sich „unsichtbar“ machen – auch für Erwartungshaltungen von außen. Auch „Dienst nach Vorschrift“ – zum Beispiel dadurch, dass das vorgeschriebene Einsatzgebiet nicht verlassen wird – kann Hilfeleistungen für in Seenot befindliche Menschen verhindern. Besonders bei den Missionen Sophia und Triton waren die Einsatzgebiete der jeweiligen Marineschiffe geografisch sehr beschränkt. Die Externalisierung von Verantwortung schließlich zeigte sich beispielsweise in der Aufrüstung der libyschen Küstenwache mit EU-Geldern. Dies führte dazu, dass Flüchtlingsboote abgefangen und nach Libyen gebracht wurden, bevor europäische Seenotrettungsorganisationen oder Marinen eingreifen konnten. Ziel all dieser Strategien ist es, nicht sichtbar unmoralisch zu agieren und sich damit jedem moralischen Druck zu entziehen.
Oftmals muss das Militär daher zu einer moralischen Entscheidung gezwungen werden. Sobald nichtstaatliche Seenotrettungsorganisationen beispielsweise ein Notsignal stellvertretend für Flüchtlingsboote in Seenot setzen, ist Rettungshandeln auch für Marineschiffe zwingend: Dieses Signal wird an das Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) gesendet, das Rettungseinsätze koordiniert bzw. Weisungen an andere Schiffe weitergibt. Auch die Marine hat sich solchen Weisungen zu fügen. NGOs können daher unter Umständen das Regelregime bestimmen, nach dem eine Situation gedeutet wird. Damit wird der Entscheidungskorridor der militärischen Organisationen verengt: Grenzschutz und Push-back stellen keine Handlungsoptionen dar. Die moralisch gute Entscheidung wird extern, außerhalb der Marineorganisation getroffen.
Ein weiterer, die Moral von Organisationen betreffender Faktor, ist ein an Werten orientiertes Professionsverständnis, das teilweise auch in militärischen Zusammenhängen wirkt. Immer wieder wird berichtet, dass auch Kapitäne von militärischen Marinen entscheiden, das ursprüngliche Einsatzgebiet zu verlassen, um Menschen zu retten. Hier kommt es auf das individuelle Verständnis von Moral an: Ordnen sich die handelnden Personen formalen Hierarchien unter, oder haben Kapitän und Mannschaft möglicherweise ein Ethos entwickelt, das die Rettung von Menschen vorsieht, auch wenn sie dem eigentlichen Auftrag nicht entspricht? Tun sie Letzteres, zeigt sich eine Moral, die sich aus den Professionen der Seefahrtstradition und aus individuellen Überzeugungen ergibt. Zudem können auch moralische Routinen entwickelt werden, sofern das Retten immer wieder praktiziert und nicht mehr hinterfragt wird. Die Rettung wird als normativer Standard in der Mannschaft und ihrem praktischen Handeln etabliert.
Eine militärische Organisation kann also zum Ort praktizierter Moral werden, die es flüchtenden Menschen ermöglicht, sicher das Territorium der EU zu erreichen. Schmerz und Leid werden verhindert. Wenn sie aber nicht rettet, was zu oft geschieht, handelt sie unmoralisch: Sie verwehrt den Flüchtenden nicht nur ihr Recht, einen Asylantrag zu stellen, sondern sie nimmt mögliches Leid der Menschen in Form von körperlichem Schmerz oder sogar Tod in Kauf.
Als ein Weg aus dieser Situation, in der moralische Entscheidungen militärischen Organisationen überlassen werden, erscheint die Eröffnung sicherer und legaler Fluchtwege nach Europa. Damit wäre die in der von dem Bürgermeister Leoluca Orlando ins Leben gerufene „Charta von Palermo“ geforderte Freizügigkeit aller Menschen auch für Flüchtende und Zuwander*innen gültig, die es ihnen erlaubt, sich frei als Menschen zu bewegen.
Der Beitrag „Moralische Entscheidungsdilemmata im Militär. Die Marine zwischen Seenotrettung und Grenzschutzauftrag“ von Max Oliver Schmidt ist in der Publikation „Organisierte Moral. Zur Ambivalenz von Gut und Böse in Organisationen“ herausgegeben von André Armbruster und Christina Besio erschienen.
Erschienen am 31.01.2022
Aktualisiert am 09.02.2022