Nichts zu verlieren, viel zu gewinnen

Nichts zu verlieren, viel zu gewinnen

Wie umgehen mit dem kolonialen Erbe der Mission?

© Daderot / Wikimedia Commons (CC0 1.0) https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en

Leopardenstatue aus dem Königreich Benin (17. Jahrhundert) im Ethnologischen Museum Berlin

Die Folgen der christlichen Mission während der Kolonialzeit prägen die Machtverhältnisse im Globalen Süden bis heute – und beeinflussen damit auch das Gedenken an die damaligen Ereignisse und Verbrechen. Das hat der Politikwissenschaftler Dr. John Njenga Karugia zum Auftakt unserer Veranstaltungsreihe „Mission und Kolonialismus. Gespräche zu einer postkolonialen Erinnerungskultur“ herausgearbeitet. Kirchen und Missionswerke ermutigte er, sich aktiv mit ihrer Rolle im Kolonialismus auseinanderzusetzen, auch wenn dies ein Weg mit ungewissem Ausgang sei. Die Gesprächsreihe wird gemeinsam von der Evangelischen Akademie zu Berlin und dem Berliner Missionswerk veranstaltet.

Das Fortwirken der Machtverhältnisse, die während der Kolonialzeit auch durch die christliche Mission mitgeschaffenen wurden, veranschaulichte Karugia am Beispiel seines Heimatlandes Kenia. „Nur wer die (kirchliche) Schule besucht hat,  wurde in der kenianischen Regierung eingestellt“, sagte Karugia, der an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Goethe-Universität Frankfurt unter anderem zu Erinnerungspolitik forscht und lehrt. Viele Missionsschulen seien dort errichtet worden, wo das Klima für die europäischen Kolonistinnen und Kolonisten erträglich gewesen sei – oder aber in Gebieten von Bedeutung für die koloniale Wirtschaft. Nach der Unabhängigkeit habe die nun kenianisch geführte Regierung deshalb vor allem Angehörige der wenigen ethnischen Gruppen angestellt, die überwiegend in diesen Gebieten lebten und dadurch eine moderne westliche Bildung erhalten hätten.

„Die Mitglieder der postkolonialen politischen Elite, die die Macht in Kenia übernommen hat, waren die ersten gebildeten Kikuyu, Embu und Meru“, sagte Karugia. „Das, was sie vereint hat, waren ganz natürlich ihre politischen Interessen und die Tatsache, dass sie Missionsschulen und Ausbildungsstätten besucht hatten.“ Dadurch seien einzelne der vielen ethnischen Gruppen im Land in eine dauerhafte Machtposition gelangt, was bis heute für politische Spannungen sorge.

„Sklaverei, Kolonialismus, Apartheid und Krieg sind nicht zu Ende“

Die Debatte um die Restitution geraubter Artefakte wie der Benin-Bronzen im Berliner Humboldt-Forum oder von menschlichen Gebeinen aus der Kolonialzeit in den anthropologischen Sammlungen Charité kritisierte Karugia als viel zu langsam. Es fehle am politischen Willen der Verantwortlichen, „um den Schandfleck aus dieser großartigen Weltstadt Berlin auszuradieren und sehr verspätete Heilung in andere Weltregionen zu bringen“. Karugia spitzte das auf die These zu: „Sklaverei, Kolonialismus, Apartheid, der erste Weltkrieg, der Holocaust und den zweite Weltkrieg sind alle noch nicht zu Ende, solange man tausende Gebeine in Berlin hält und tausende Artefakte in Berlin lagert und ausstellt.“

Aber wollen die Menschen im Globalen Süden überhaupt erinnern – oder womöglich lieber vergessen? Darauf gibt es nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers keine einfache Antwort. „Politiker erhoffen sich große Summen an Reparationen von ehemaligen Kolonialmächten und fördern (...) ‚Reparationen-Aktionismus‘ – zum Beispiel in Namibia wegen des deutschen Genozids an Herero und Nama.“

Die Eliten der Kirchen im Globalen Süden dagegen vermieden es zum großen Teil, das komplexe Verhältnis von Missionierung und Kolonisierung aufzuarbeiten oder überhaupt anzusprechen: „Sie wollen ihren Freunden und Netzwerke in europäischen Kirchen, Missionswerken, Nichtregierungsorganisationen (...) nicht zu nahe treten, sie nicht verletzen und nicht verlieren. Denn es fließt Geld und anderes – eine Art Zahlungen, die das Gewissen beruhigen  – und sie denken, wenn sie die europäischen Partner auf diese Themen ansprechen, würden sie damit den Baum fällen, von dem sie ihre Äpfel bekommen.“

Ist „unbestelltes“ Gedenken übergriffig?

Sollten sich Kirchen und Missionswerke in Deutschland und Europa also überhaupt aktiv mit ihren kolonialen Verstrickungen auseinandersetzen, auch wenn dies im Globalen Süden teils gar nicht gewünscht ist? Oder wäre ein von außen kommendes Erinnern wiederum „übergriffig“?

„Wenn die Mission und die Kirche ihre Rolle in der Kolonialzeit nicht reflektiert, wird diese Reflexion so oder so stattfinden. Andere Akteure werden diese Geschichte reflektieren“, sagte Karugia dazu. Diese Reflexion finde heutzutage zum Beispiel in den sozialen Medien statt, wo sich Menschen ganz unterschiedlich, mitunter auch anonym zum historischen Erbe der Mission äußerten. Manche sähen in der Missionszeit eine wichtige Epoche in der Geschichte ihrer Länder, andere betonten, dass sie vieles zerstört habe, darunter den Glauben und die Sitten ihrer Vorfahren. Wieder andere setzten sich mit der Rolle der Bibel als Begleiterin der Kolonialherren auseinander.

Was soll man also tun? „Dialog hilft“, betonte Karugia. „Dialog mit sich selbst, Dialog mit Kolleg*Innen. Dialog mit Menschen aus dem Globalen Süden. Nicht nur mit der kirchlichen Elite, sondern mit allen möglichen.“ Diese Reflexion könne viele Formen annehmen, darunter Archivarbeit, Dialoge mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Medien- und Forschungsprojekte. Mitunter könnten die Ergebnisse auf ganz unvermutete Weise in die einstigen Missionsgebiete zurück wirken. „Das Evangelium haben Missionare freiwillig und ohne Bestellung des Globalen Südens verbreitet“, sagte Karugia. „Die gegenwärtige Mission soll genauso freiwillig und ohne Bestellung den Globalen Süden einladen, die Vergangenheit mitzureflektieren.“

Wichtig für die Kirchen des Globalen Nordens sei nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Das Ergebnis sei offen und werde womöglich nicht eindeutig ausfallen. Vielleicht werde man feststellen, dass die Missionarinnen und Missionare mit guten Absichten gekommen seien und trotzdem viel Leid und Unrecht verursacht hätten. Vielleicht werde man Entschuldigungserklärungen formulieren müssen. Wichtig sei, dass sich die Kirchen ihrer Verantwortung stellten und menschlich handelten, betonte Karugia: „Es gibt nichts zu verlieren. Es gibt sehr viel zu gewinnen. Es bedarf eines Perspektivenwechsels. Im Kopf, im Herzen und in der Seele.“

Die nächste Veranstaltung der Reihe „Mission und Kolonialismus. Gespräche zu einer postkolonialen Erinnerungskultur“ findet am 8. Juni um 19 Uhr statt.

Krippner, Friederike 2020

Dr. Friederike Krippner

Akademiedirektorin

Telefon (030) 203 55 - 505

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