Religion als Platzhalter
Was heutige Islamdebatten mit deutscher Kolonialpolitik zu tun haben
Die heutigen Islamdebatten in Deutschland hatten ihre Vorläufer schon in der Kolonialzeit. Auf eine historische Spurensuche nahm Ozan Zakariya Keskinkilic deshalb die Teilnehmenden beim zweiten Werkstattgespräch unserer Reihe „Rassismus und Religion“ mit.
„9/11 war nicht der Startschuss für antimuslimischen Rassismus. Seine Geschichte reicht viel weiter zurück“, betonte der Politikwissenschaftler, freie Autor und Lyriker in seinem Impulsvortrag. „Lange bevor Pegida vor der ‚Islamisierung des Abendlandes‘ warnte, gab es bereits Islamdebatten auf deutschen Kolonialkongressen.“
Am Beispiel der Kolonial- und Orientpolitik in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika machte Keskinkilic die Vermischung von Religion, Kultur und „Rassifizierung“ deutlich. Dass dieser Teil deutscher Kolonialgeschichte bis heute selbst in Fachkreisen weitgehend unbekannt ist, wurde an den Reaktionen der Teilnehmenden – Multiplikator*innen aus dem Bereich der Jugendbildung, der politischen und interreligiösen Bildung – sichtbar. Eine Teilnehmerin zum Beispiel zeigte sich überrascht, „dass Religion nicht wirklich das Thema ist, sondern dass sie nur ein Platzhalter für rassistische Vorstellungen ist“.
Keskinkilic führte aus, wie die deutsche Kolonialpolitik – und mit ihr der Blick auf Muslim*innen – auf den Kolonialkongressen 1905 und 1910 im Berliner Reichstag entscheidend mitgestaltet wurde. Der Orientalist Carl Heinrich Becker vertrat dort die Ansicht, die Verschiedenheit von Religionen sei „ganz naturgemäßer Ausdruck der natürlichen Verschiedenheit der Rassen“ (zitiert nach Keskinkilics Buch Die Islamdebatte gehört zu Deutschland. Rechtspopulismus und antimuslimischer Rassismus im (post)kolonialen Kontext, S. 40). Bemerkenswert war die Rolle von Kirchenvertretern auf den Kongressen: Sie stützten das koloniale Projekt, indem sie die Hierarchien und Machtansprüche der Europäer*innen auch religiös legitimierten. Missionsvertreter Jos Froberger bezeichnete den Islam als „Kulturgefahr“ (ebd. S. 38), und Pastor Julius Richter sah im Evangelium eine „authentische Gegenlehre des Korans“ (ebd. S. 44).
Einige dieser antimuslimisch-rassistischen Denkmuster wirken laut Keskinkilic bis heute fort. Insbesondere gebe es Parallelen zu heutigen rechtspopulistischen Verschwörungsmythen. Beispielsweise ist das Überfremdungsmotiv heute wie damals eine wichtige Spielart des antimuslimischen Rassismus: Während das Sprechen von der „Gefahr einer Islamisierung“ zur Kolonialzeit vor allem im Kontext von Expansion verstanden werden müsse, so Keskinkilic, diene es heute der Festigung von Grenzregimen und Ausschlussmechanismen.
Deutsch-muslimische Biographien als Ausgangspunkt für verwobene Geschichten
Im zweiten Teil des Workshops beschäftigten sich die Teilnehmenden mit den Biographien von drei Muslim*innen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Berlin der Kolonialzeit beziehungsweise des Nationalsozialismus lebten: dem Arabischlehrer Hassan Taufik, der Sängerin und Kinobetreiberin Hamida Soliman und dem Arzt Mohamed Helmy. Anhand solcher Geschichten lässt sich – bislang weitgehend unbekanntes – muslimisches Leben in Deutschland sichtbar machen, lassen sich die Stimmen von Muslim*innen und ihr Wandern zwischen Welten ins Bewusstsein rücken.
Die Teilnehmenden erkundeten auf diese Weise neue Wege, um Verflechtungsgeschichte in ihren eigenen Arbeitskontexten zu vermitteln: Durch die Annäherung an große historische Fragen mittels persönlicher Lebensgeschichten wird deutlich, wie eng vermeintlich hermetisch voneinander getrennte Kulturräume tatsächlich zusammenhängen. Verbindungslinien werden entdeckt, rechtspopulistische Narrative von kulturell-völkischer „Reinheit“ aufgebrochen.
Der dritte Teil der Workshop-Reihe findet am 23. Juni statt.
Erschienen am 17.05.2022
Aktualisiert am 10.08.2022