Souveränität durch Solidarität mit den Nächsten

Souveränität durch Solidarität mit den Nächsten

Von Widersprüchen und Verständigung in Zeiten der Abschottung

© Katrin Greiner

Zum Aushandeln und Aushalten von Widersprüchen mahnt die neue Vorsitzende unserer Gesellschafterversammlung, die Designforscherin Gesche Joost. In ihrem Editorial zu unserem aktuellen Newsletter „Streitlust“ warnt sie vor vermeintlich einfachen Antworten auf die komplexen Fragen, die sich in den multiplen aktuellen Krisen stellen. Nötig seien vielmehr Besonnenheit und der unbedingte Wille zur Verständigung.

Sagt Ihnen der Begriff der „neuen Souveränität“ etwas? Er beinhaltet eine Forderung, die die politische Debatte aktuell bestimmt. Deutschland ist abhängig vom russischen Gas, abhängig von chinesischen Halbleitern und Batterien, abhängig von US-amerikanischen Digitalplattformen. Die neue Souveränität soll die Unabhängigkeit wiederherstellen – etwa durch eigene Wasserstoffterminals, Chip-Produktion, Batteriefabriken und digitale Datenspeicher. Angesichts multipler Krisen scheint dieser Schritt logisch. Aber welche Vision verfolgen wir damit für Europa? Eine neue Souveränität darf nicht nationale Alleingänge als einfache Antwort auf komplexe Fragen anbieten.

In der Frage nach digitaler Souveränität beispielsweise lässt sich eine Tendenz beobachten, Teile der weltweiten Datennetzwerke durch lokale Datenspeicher zu ersetzen. Dies widerspricht im Kern der Idee des Internets als dezentrales Netzwerk. Der Versuch, die Kontrolle über Daten mit lokalen Speichern zurückzuerobern, stammt aus einer analogen Zeit. Fragen der Unabhängigkeit werden wir aber nur in gemeinsamen Netzwerken lösen können – im Multilateralismus, in der Verständigung mit den Partnern in einer freien und demokratischen Welt. Re-Nationalisierung und Abschottung sind Konzepte, die wir überwunden haben sollten. Auch in dieser schwierigen Zeit sollten wir nicht vorschnell zurückrudern, sondern die europäische Idee stärken: Partnerschaft auf Grundlage der Demokratie ist heute gefragt.

Dieses Aushandeln – und Aushalten – der Widersprüche lässt sich auf christlichen Werten aufbauen. Wir brauchen Besonnenheit und den unbedingten Willen zur Verständigung, zum Konsens, selbst wenn es schwerfällt. An der Evangelischen Akademie bieten wir den Raum, solche drängenden Fragen gemeinsam zu diskutieren und Konflikte zu beleuchten. Der Blick auf unsere Verwundbarkeit in der Krise – als Gesellschaft, als Staat – sollte uns zu neuen Gemeinsamkeiten führen. Unsere Souveränität erreichen wir durch Solidarität mit unseren Nächsten, die gemeinsam für eine offene Gesellschaft eintreten.

Die Designforscherin Prof. Dr. Gesche Joost ist seit September 2022 Vorsitzende der Gesellschafterversammlung der Evangelischen Akademie zu Berlin. Neben ihr gehören dem Gremium nun der Berater und Unternehmer Friedhelm Wachs als stellvertretender Vorsitzender sowie Dr. Christina-Maria Bammel (Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz), Anne Gidion (Bevollmächtigte Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland), Dr. Katrin Rudolph (Superintendentin des Kirchenkreises Zossen-Fläming) und Oberkirchenrätin Dr. Birgit Sendler-Koschel (Leiterin der Bildungsabteilung im Kirchenamt der EKD) an.

Porträtfotos von Gesche Joost und Friedhelm Wachs

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