Jüdisch, religiös, politisch
Margarete Susman und das „göttliche Gesetz“ | Blog | Elisa Klapheck
Das Werk der jüdischen Philosophin Margarete Susman fordert dazu auf, die von christlichen Vorstellungen geprägte Spaltung zwischen Religion und Politik, himmlischem Reich und weltlichen Strukturen, Jenseits und Diesseits, Transzendenz und Immanenz zu hinterfragen.
Margarete Susman gehört in die Reihe der großen deutschsprachigen jüdischen Philosophinnen und Philosophen des 20. Jahrhunderts: Martin Buber, Ernst Bloch, Gustav Landauer, Franz Rosenzweig. Susmans Werk plädiert für ein politisches Judentum in der Diaspora, das selbstbewusst auf seine religiösen Ursprünge verweist.
Geboren wurde sie 1872 in eine gutsituierte jüdische Familie in Hamburg, die sich mit der christlichen Kulturdominanz arrangiert hatte. Erst nach dem frühen Tod ihres Vaters 1894 besuchte die schon zwanzigjährige Susman den jüdischen Religionsunterricht. Noch 1906 war sie bereit, für ihre Eheschließung mit dem Maler Eduard von Bendemann zum Christentum überzutreten. Doch ähnlich wie Franz Rosenzweig sagte sie kurz vor der Taufe ab.
Susman hinterließ ein Werk von 17 Büchern und rund 250 Aufsätzen und Artikeln. Ihr Gesamtwerk fordert dazu auf, die christlich vermittelte Spaltung zwischen Religion und Politik, himmlischem Reich und weltlichen Strukturen, Jenseits und Diesseits, Transzendenz und Immanenz zu hinterfragen.1
Susmans religiöses Denken ist interessant, weil ihre Neubestimmung jüdischer Verantwortung nicht auf eine feststehende religiöse Identität hinausläuft. Das „göttliche Gesetz“ zielt für sie weder auf eine orthodoxe Theokratie noch auf eine religiöse Ethik liberaler und sozialer Gemeinplätze, sondern prägt jegliches religiös motiviertes politisches Denken. Das göttliche Gesetz ist bei ihr nicht repressiv, also ein Instrument zur Erzwingung von Gehorsam, sondern ein Vehikel zur Befreiung von Unterdrückung im politischen Sinn. Religiös gesprochen, ist es in diesem Verständnis eine (er-)lösende Praxis, die auf eine bessere, messianische Zukunft zielt.2 Damit wird das „Gesetz Gottes“ bei Susman zu einer offenen religiös-politischen Plattform und zum jüdisch-religiösen Unterbau der Demokratie.
Im jüdischen Paradigma von Exil und Rückkehr wie auch im christlichen Paradigma von Tod und Wiederauferstehung findet Susman das politische und revolutionäre Potenzial eines „Trotzdem“. Diese revolutionäre Bedeutung des Judentums konkretisiert sich im Begriff der Teshuwa: „Sühne“ wird hier nicht christlich als „Strafe“ verstanden, sondern jüdisch als „Umkehr“ und damit als eine positive Möglichkeit – als revolutionäre Umkehr, verwirklicht durch läuterndes, sühnendes Wandeln und Neugestalten der politischen Gegenwart.3
Diese Idee hat auch das Christentum aufgenommen, wie Susman in ihrem 1925 erschienenen Aufsatz „Die Brücke“4 schreibt, denn „Christus“ sei der Begegnungspunkt der heidnisch-christlichen Völker mit dem Judentum. Damit sei allen Menschen die Möglichkeit gegeben worden, das göttliche Gesetz anzunehmen. In diesem Begegnungspunkt verwirklicht sich für Susman die Revolution aller politisch Unterdrückten sowie der Frauen. Erst mit dem Gesetz Gottes wurden ihnen die Gesetze der Teschuwa – der revolutionären Sühne – gegeben und damit der Weg zur Befreiung.
Susmans Auseinandersetzung mit dem Judentum galt somit nicht allein den Jüdinnen und Juden. Vielmehr öffnete sie die mit dem göttlichen Gesetz verknüpfte politische Tradition des Judentums zu einem religiös-säkularen Weg für die Menschheit.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verließ Susman Frankfurt am Main, wo sie seit ihrer Scheidung lebte, und emigrierte Ende 1933 in die Schweiz. Während des Zweiten Weltkrieges entstand das Buch, das viele für Susmans Hauptwerk halten: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, erschienen 1946 – ein erster Versuch einer religiösen Deutung der Schoa. Die darin enthaltene Theodizee vermochte allein schon wegen ihrer zeitlichen Nähe zum millionenfachen Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden schwer zu überzeugen. Bis zu ihrem Tod 1966 betrat Susman nicht mehr deutschen Boden.
Elisa Klapheck ist Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn, Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands. Ihr Buch Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie erschien 2021 im Verlag Hentrich und Hentrich.
Für die Playlist zu unserem Adventsblog hat Elisa Klapheck das Lied „Im Feld ein Mädchen singt“ von Jean Sibelius (Op. 50 Nr. 3) ausgewählt, eine Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Margarete Susman.
Die ganze Playlist zum Adventsblog TROTZDEM!
1 Das gilt vor allem für Margarete Susman, „Auflösung und Werden in unserer Zeit“, in: Der Morgen 4 (Oktober 1928), S. 335-353; „Früheste Deutung Franz Kafkas“ (1929), in: Das Nah- und Fernsein des Fremden. Briefe und Essays, hg. v. Ingeborg Nordmann, Frankfurt/Main 1992, S. 183-203; „Vom Sinn unserer Zeit“ (1931), in: Vom Geheimnis der Freiheit, 1965, S. 3-14; „Das Judentum als Weltreligion“ (1932), in: Vom Geheimnis der Freiheit. S. 105-121; „Der jüdische Geist“ (1933), in: Das Nah- und Fernsein des Fremden, 1992, S. 209-223.
2 In ihrer Ezechiel-Deutung beschrieb sie die von den biblischen Propheten angestrebte Transformation einer Theokratie zur religiös motivierten Demokratie. Margarete Susman, „Ezechiel – Der Prophet der Umkehr“ (1942), in: Deutung biblischer Gestalten, Stuttgart, Konstanz 1955, S. 61-95.
3 Siehe vor allem Susmans Aufsätze „Die Revolution und die Frau“ (1918) sowie „Das Frauenproblem in der gegenwärtigen Welt“ (1926), beide in: Das Nah- und Fernsein des Fremden, 1992, S. 117-128 und S. 143-167; ferner Margarete Susman, „Auflösung und Werden in unserer Zeit“, in: Der Morgen 4 (Oktober 1928), S. 335–353; „Frau und Geist“, in: Die Literarische Welt, Berlin (20. 3. 1931); „Wandlungen der Frau“ (Januar 1933), in: Gestalten und Kreise, Zürich 1954, S. 160–177. Außerdem ihre beiden Bücher Vom Sinn der Liebe, Jena 1912, und Frauen der Romantik, Jena 1929.
4 Margarete Susman, „Die Brücke zwischen Judentum und Christentum“ (1925), in: Vom Geheimnis der Freiheit, 1965, S. 15-26.
Erschienen am 11.12.2022
Aktualisiert am 22.12.2022