Raus aus der Schublade
Fremdwahrnehmung und Identität | Blog | Philipp Reinhardt
Sinti blicken auf eine lange Geschichte diskriminierender Fremdwahrnehmung zurück. Das beeinträchtigt nicht nur ihre Aufstiegschancen, sondern auch das Selbstbild, wie unser Autor aus eigener Erfahrung schildert.
“Woher kommst du eigentlich?”
“Nein, sag mal – wirklich jetzt!”
“Du siehst aber gar nicht aus, als würdest du aus Deutschland kommen.”
“Sinti? Sind das nicht alles Diebe?”
Solche Identitätsfragen begegnen uns Sinti im Alltag sehr häufig. Die Menschen um uns herum suchen nach irgendeiner Schublade, in die wir gerade noch so hineinpassen. Um es in den Worten der Bibel zu sagen: Sie machen sich ein Bildnis.
So ein Bildnis wird oft nicht nach dem Menschen geschaffen, sondern der Mensch nach dem Bildnis. Verloren geht das Individuum, das einzigartige Geschöpf Gottes. Ersetzt durch eine Wahrnehmung, die nie ganz das fassen kann, was der Mensch eigentlich ist.
Wir Sinti blicken auf eine lange Geschichte von Fremdwahrnehmung und „Reden-über“ zurück. Und die uns ständig vorgehaltenen Bildnisse beeinflussten immer auch das, was wir selbst von uns dachten. Ständiges Herunterreden und Kleinhalten, fernab von jeglichem Empowerment. So finden wir uns oft in einer Lage wieder, in der wir nicht mehr wissen, ob wir wirklich gut genug sind. Ob wir wirklich schön und einzigartig und besonders sind. Gerade in den Schulen hat ein langanhaltender Rassismus dafür gesorgt, dass vielen von uns Aufstiegschancen als unrealistisch dargestellt wurden.
Empowerment heißt für uns: das Loslösen von all diesen Bildnissen. Erkennen, dass Gottes Liebe und Gnade genug ist. Doch auch eine Arbeit nach außen hin ist für uns unerlässlich. Das Individuum steht für uns im Mittelpunkt der Aufklärungsarbeit. Es gilt aufzuräumen mit der Verallgemeinerung und den Stereotypen.
Insofern ist es nicht zu weit gegriffen, wenn ich sage, dass das „Bildnisverbot“, wie es oft genannt wird, schon immer ein zentraler Punkt in unserem Verein Sinti Powerclub war und auch weiterhin sein wird. Denn wo das Bildnis anfängt, da hört die Neugier, das Interesse, ja da hört die Liebe auf.
Sehr gut fasst das dieser Text aus einem Lied des Sinto Samuel Mettbach in Worte, eines Sängers und Songwriters, aus dem Jahr 1997:
„In Gottes Augen bist du wundervoll. Er hat dich so erschaffen wie du bist. Es gibt kein zweites Lächeln auf der Welt, das deinem Lächeln gleichen kann. Der Glanz in deinen Augen, den du hast. Die Stimme, die dir Gott gegeben hat. Drum sei nicht unzufrieden mit dir selbst, denn Gott liebt dich, so wie du bist. Er will doch nur in deiner Nähe sein und will sich mit dir freuen. Er weiß, wie du dich fühlst in Zeit der Angst und Not. Drum komm so, wie du bist, dein Schöpfer, Jesus Christus hat dich lieb.“
Philipp Reinhardt (17 Jahre) macht derzeit sein Abitur an einem Gymnasium in Ravensburg. Seit mehreren Jahren ist er im Sinti Powerclub aktiv, der Landesvertretung deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg. Dort engagiert er sich vor allem für Aufklärung und Bildung zum Beispiel in Form von Museumsführungen und Workshops.
Sein Stück für die Playlist zu unserem Blog ist der 1. Satz der Sinfonie Nr. 7 von Anton Bruckner. Daran gefällt ihm vor allem, „wie das erste Thema aus dem Nichts entsteht und Langsam zu etwas heranwächst“.
Die ganze Playlist zum Adventsblog TROTZDEM!
Erschienen am 30.11.2022
Aktualisiert am 04.08.2023