Was Rassismus (nicht) mit Religion zu tun hat
Workshops zu Islam- und Muslim*innenfeindlichkeit
Murat bekommt bei gleicher Leistung schlechtere Noten als Max. Die kopftuchtragende Meryem muss sieben Mal mehr Bewerbungen verschicken als Sandra, die keine Kopfbedeckung trägt, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Fatima und Hassan sind trotz Festanstellung und gutem Einkommen noch immer auf Wohnungssuche, während Annika und Christian bereits umgezogen sind. Ob im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche – zahlreiche Studien belegen, dass antimuslimischer Rassismus in Deutschland allgegenwärtig ist.
In zwei interaktiven Online-Workshops am 23. und 24. Februar sind Yousra Mansouri und Franziska Vorländer, Referentinnen im Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit mit den Teilnehmenden der Frage nachgegangen, was antimuslimischer Rassismus eigentlich ist. „Es geht dabei nicht um individuelle Vorurteile, sondern um strukturelle und institutionelle Formen von Diskriminierung“, erklärte Yousra Mansouri, die im Kompetenznetzwerk die Muslimische Jugend in Deutschland vertritt. Franziska Vorländer, Vertreterin der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend, ergänzte: „Dabei betrifft antimuslimischer Rassismus nicht nur Menschen, die sich selbst als Muslim*innen verstehen, sondern alle, die als solche wahrgenommen werden, egal ob sie selbst sich als Atheist, Christin oder Sikh identifizieren.“
Die Auseinandersetzung mit antimuslimischem und anderen Formen von Rassismus rückt gesamtgesellschaftliche Dynamiken in den Vordergrund. Es geht weniger um das Erkunden von individuellen Vorurteilen und Einstellungen, sondern vor allem darum zu erkennen, wie bestimmte Bilder und Vorstellungen von homogenen Gruppen gefestigt werden und als Legitimation für Abwertung und Ausgrenzung dienen.
Charakteristisch für den antimuslimischen Rassismus ist, dass anhand tatsächlicher oder zugeschriebener kultureller Praktiken oder Eigenschaften wie Name, Aussehen, Herkunft oder Kleidung Unterschiede zwischen Menschengruppen gemacht werden. Diese Merkmale werden zu unveränderlichen Eigenschaften stilisiert, die Menschen als vermeintliche Alleinstellungsmerkmale charakterisieren. Es werden keine Nuancen und Ambivalenzen wahrgenommen in der Art und Weise, wie Menschen religiöse Praktiken ausüben, welchen Stellenwert Religion in ihrem Leben hat und inwiefern sich ihre religiöse Identität auf ihr Verhalten und ihre Einstellungen auswirkt. Anstatt Individualität und individuelle Biographie anzuerkennen, steht die vermeintlich homogene Gruppenzugehörigkeit im Vordergrund.
Die Wirkungsweise dieses Mechanismus verdeutlichten Mansouri und Vorländer anhand von Beispielen aus dem medialen Diskurs und in interaktiven Übungen. Die Teilnehmenden – Multiplikatoren*innen in der politischen und interreligiösen Bildung und der pädagogischen Arbeit mit Geflüchteten – waren eingeladen, sich mit eigenen Stereotypen, der eigenen Verstricktheit in Rassismen aber auch mit eigenen Diskriminierungserfahrungen auseinanderzusetzen.
Kann die weiße Ehefrau eines muslimischen Mannes antimuslimischen Rassismus erfahren?
Während sich die Teilnehmenden einig waren, dass antimuslimischer Rassismus stärker als gesamtgesellschaftliches Problem anerkannt und bekämpft werden muss, regten interaktive Elemente des Workshops Kontroversen an: Was bedeutet es, dass Weißsein eine soziales Konstrukt ist und nicht an der Hautfarbe festgemacht wird? Können Menschen sich durch Veränderung ihres Aussehens und ihrer Kleidung rassistischer Diskriminierung entziehen? Und wenn ja, was sagt das über die Dominanzgesellschaft? Kann die weiße Ehepartnerin eines muslimischen Mannes aufgrund ihres Namens und der zugeschriebenen Rollenbilder antimuslimischen Rassismus erfahren? Und warum wird nur bei nicht-weißen Menschen von Rassismus-Erfahrungen gesprochen, in der Regel aber nicht, wenn zum Beispiel Osteuropäer*innen diskriminiert werden?
Das gemeinsame Interpretieren von Titelbildern ausgewählter deutschsprachiger Magazine und Kunst über den sogenannten Orient zeigte außerdem, wie sich in der Debatte um Islam und Muslim*innen in Deutschland einerseits Diskurse verschoben haben, andererseits aber bestimmte Bilder und Stereotypisierungen bestehen bleiben.
Antimuslimischer Rassismus hat eine lange Geschichte, so die Referent*innen. Die Bilder über den Islam und Muslim*innen wurden im 19. Jahrhundert im Zuge von Imperialismus und Kolonialismus geprägt. Der Mechanismus, ein vermeintliches Wir in Abgrenzung zum Anderen zu stärken und damit eigene Privilegien zu legitimieren und aufrechtzuerhalten, kann aber viele Gewänder und Ausdrucksformen annehmen. Im medialen Diskurs der postmigrantischen deutschen Gegenwartsgesellschaft hat der Fokus auf Religion als Unterscheidungskriterium andere Kategorien wie Nationalität oder Herkunft ergänzt: Aus den „Gastarbeitern“ oder „Türken“ von einst sind heute oft „Muslime“ geworden. Umso wichtiger ist es, sich mit Rassismus und Religion weiter auseinanderzusetzen.
Dazu laden wir ein zu einem Fachtag am 24. März in der Französischen Friedrichstadtkirche und zu weiteren Online-Werkstattgesprächen in der Reihe „Rassismus und Religion“ am 5. Mai und 23. Juni.
Erschienen am 01.03.2022
Aktualisiert am 09.03.2022