Widerstreitende Geschichtsbilder
Stand und Zukunft der Erinnerungspolitik
Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt auf erschreckende Weise, wie Geschichtspolitik eine aggressive Politik ideologisch befeuern kann. Die toxische Mixtur geschichtspolitischer Versatzstücke, mit denen die russische Führung den Feldzug gegen die Ukraine rechtfertigt, macht deutlich, wie gefährlich unreflektierte und einseitige kulturelle Erinnerungsformen sind.
Anlässlich der Tagung „Tätiges Erinnern: Die Suche nach den Spuren in die Zukunft “ veröffentlichen wir hier einen Aufruf der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial (PDF-Dokument, 57.1 KB) von 2008 wieder. Darin mahnte Memorial zu einem verständnis- und verantwortungsvollen Umgang mit den widerstreitenden Erinnerungen verschiedener Gesellschaften:
„Es hat keinen Sinn, „fremde“ Erinnerung zu ignorieren, so zu tun, als gäbe es sie nicht. Es hat keinen Sinn, sie für unbegründet zu erklären und sämtliche Tatsachen und Einschätzungen, auf denen sie beruht, rundweg abzustreiten.
Aus dem Leiden und Unglück des eigenen Volkes lässt sich keine moralische Überlegenheit über andere Völker ableiten, die vermeintlich oder tatsächlich weniger gelitten haben; diese Leiden dürfen nicht als politisches Kapital eingesetzt und in einen Forderungskatalog an die Nachbarstaaten und -völker umgemünzt werden.“
Die bewusste Auseinandersetzung mit diesen Unterschieden könne das jeweils eigene Geschichtsbewusstsein sogar bereichern, heißt es in dem Aufruf weiter. Den vollständigen Text stellen wir hier mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Osteuropa zur Verfügung.
Die Historikerin und Memorial-Mitbegründerin Irina Scherbakowa gehört zu den Referierenden der Tagung, bei der wir vom 1. bis 3. April eine Bestandsaufnahme aktueller und zukünftiger Fragestellungen in der Erinnerungspolitik vornehmen wollen. Unter den weiteren Referentinnen und Referenten sind die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, der Historiker Hannes Heer, Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, Leontine Meijer-van Mensch, Direktorin der Völkerkundemuseen in Leipzig, Dresden und Herrnhut, die Erziehungswissenschaftlerin und Diversitätsforscherin Astrid Messerschmidt und Stefanie Schüler-Springorum vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.
Angriffe von rechts und postkoloniale Fragestellungen
Denn auch abseits des Ukraine-Kriegs ist Geschichtspolitik aktuell heftig umstritten. In Deutschland ist die Erinnerungskultur mit ihrem sicher geglaubten Bestand an selbstreflexiver Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus Angriffen aus rechtspopulistischen Kreisen ausgesetzt. Zugleich wird immer deutlicher, dass die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit hierzulande bislang zu wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Mitunter wird sie in Konkurrenz zum Gedenken an den Völkermord an den europäischen Juden sowie an Sinti und Roma gebracht. Mit welcher Vehemenz dies geschieht, macht deutlich, dass hier nicht einfach Geschichte bedacht wird, sondern auch Gegnerschaften produziert werden.
All dies ist Anlass genug zu einer Sichtung aktueller und kommender Themen in der Erinnerungspolitik: Welche Perspektiven sind in der intensiven Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit seit der Revolution von 1989 und unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft vernachlässigt worden? Welche stehen unter Druck von Seiten rechtskonservativer und rechtspopulistischer Milieus? Welche Spuren aus den Bearbeitungsformen der Vergangenheit führen in die Zukunft einer demokratiefördernden, an Menschenwürde und Menschenrechten orientierten, rassismus- und antisemitismuskritischen historisch-politischen Bildung?
Den Abschluss der Fachtagung bildet eine öffentliche Podiumsdiskussion in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt über Stand und Perspektiven der Erinnerungspolitik.
Erschienen am 29.03.2022
Aktualisiert am 30.03.2022