Antisemitische Narrative in Schulbüchern
Tagung zu problematischen Darstellungen
Schulbücher, die – unterschwellig und meist unbeabsichtigt – antisemitische Narrative an Kinder und Jugendliche weitergeben, standen im Fokus einer Tagung für Bildungs- und Schulverantwortliche der Landeskirchen, an den Verfahren zur Schulbuchzulassung Beteiligte, Vertreter*innen von Verlagen, Autor*innen von Unterrichtsmaterialien und Forschende aus Theologie und Religionspädagogik. Joachim Willems und Ariane Dihle vom Institut für evangelische Theologie und Religionspädagogik der Universität Oldenburg haben sie mit organisiert. Im Interview geben Sie auch praktische Tipps für Lehrkräfte.
Bei den Reaktionen auf den Krieg in Nahost kommen auch antijüdische Narrative zum Tragen. Sie haben die Tagung „Schulbücher jüdisch-christlich bedenken“ mit organisiert, die sich mit – meist unbeabsichtigt – antijüdischen Narrativen in Schulbüchern befasst. Sorgen diese womöglich schon früh für eine antijüdische Haltung mancher und prägen damit unsere Gesellschaft?
Joachim Willems: Über einen solchen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Bildungsmaterialien und antijüdischen beziehungsweise antisemitischen Narrativen in der Gesellschaft lässt sich keine Aussage treffen. Allerdings zeigt sich, dass Schulbücher und andere Bildungsmaterialien in vielen Bereichen ein Spiegel der Gesellschaft sind: In ihnen finden sich gesamtgesellschaftliche Narrative wieder, die sich wissenschaftlich herausarbeiten lassen. Auch wenn die meisten Menschen, die Bildungsmaterialien produzieren, eigenen Antisemitismus sicher verneinen würden, sind wir alle in antisemitische Narrative verstrickt, die wir also ohne oder entgegen aller Absichten tradieren.
Ariane Dihle: Studien wie beispielsweise die aktuelle Mitte-Studie oder die Leipziger Autoritarismus-Studie zeigen, dass bei ungefähr 20 bis 25 Prozent der Befragten zumindest eine latente Zustimmung zu antisemitischen Narrativen vorliegt. In der Mitte-Studie fällt auf, dass die Zustimmungswerte zu manifestem Antisemitismus in der jüngsten Gruppe der 18- bis 34-Jährigen am höchsten sind. Die Gesellschaft als Resonanzraum, in den hinein Schulbücher sprechen, muss unbedingt beachtet werden.
Was bedeutet das im Hinblick auf Unterrichtsmaterialien?
Dihle: Es ist ein bisschen wie mit den Kippbildern, die viele Menschen kennen, auf denen im gleichen Bild ein Hase oder eine Ente, eine Vase oder zwei Gesichter gesehen werden können: Unterrichtsmaterialien, die Inhalte teilen, die an antijüdische Narrative anschlussfähig sein können, müssen nicht antijüdische Haltungen prägen, aber sie können bei denjenigen, die aus ihrer außerschulischen Umwelt antijüdische Narrative kennen, diese möglicherweise bestätigen oder gar verstärken. Zur Rezeption ist in diesem Kontext wissenschaftlich noch zu wenig bekannt. Was wir aber in Schulbüchern sehen: dass sich bestimmte antijüdische Narrative im christlichen Kontext seit Generationen konstant halten, auch wenn die wissenschaftliche Forschung hieran seit Jahrzehnten Kritik übt, zum Beispiel die Bibel-Exegese und die Systematische Theologie. Schule ist ein Ort, an dem dieses Wissen immer wieder reproduziert und an die nächste Generation tradiert wird und somit eben auch ein zentraler Ort, um bestimmten Narrativen entgegenzutreten.
Ohne diese hier reproduzieren zu wollen – können Sie kurz anreißen, welche problematischen Darstellungen des Judentums sich in deutschsprachigen Schulbüchern und anderen Bildungsmaterialien bis heute finden? Wie gelingt eine Sensibilisierung von Autor*innen, Verlagen und denjenigen Stellen, die Lehrmaterialien auswählen?
Willems: Die Problemfelder sind komplex und vielfältig. Wenn Bildungsmaterialien beispielsweise vor allem orthodoxes oder ultraorthodoxes Judentum darstellen, trägt das dazu bei, dass junge Leute Judentum als „fremd“ wahrnehmen. Wenn dann gelebte jüdische Religiosität als streng und einschränkend gezeigt wird, kann das zu einer Abwertung jüdischer Glaubenspraxis führen. Ein Beispiel dafür wäre, dass Speisegebote und Feiertage als gemeinschaftsstörend dargestellt werden, indem sie – vermeintlich – verhindern, dass fiktive Kinder in den Schulbüchern an Aktivitäten mit nicht-jüdischen Menschen teilnehmen. Außerdem finden sich oft auch sachliche Fehler in Bezug auf die religionskundliche Darstellung des Judentums in den Materialien.
Dihle: In Bezug auf die Darstellung des Judentums ist zudem auf eine Viktimisierung hinzuweisen: Judentum ist dann keine gelebte Religion in Deutschland, auf die man sich positiv bezieht, sondern wird vor allem in Bezug auf die Shoah unterrichtet. Dieser Fokus auf Verfolgungsgeschichte trägt dazu bei, jüdisch-deutsche Geschichte als eine Geschichte des Gegensatzes zu verstehen, der Jüdinnen und Juden auch in historischer Weise fremd erscheinen lässt. Dabei werden zum Teil falsche Narrative wiederholt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Dihle: Ein prominentes Beispiel ist hier beispielsweise die Wiederholung des angeblichen Sozialneids, der im Mittelalter zu Pogromen geführt habe. Diese werden teils so erklärt, dass es im Christentum verboten war, Zinsen zu nehmen und daher viele Juden im Bankenwesen arbeiteten, hohe Zinsen nahmen und so den Zorn des Volkes auf sich zogen. Es ist erwiesen, dass diese Erklärung eigentlich zum einen eine Schuld-Umkehr beinhaltet, die die Täter*innen antisemitischer Pogrome entlastet, indem sie das Verhalten vermeintlich erklärt. Zum anderen ist es historisch falsch: So durften Christen sehr wohl Zinsen nehmen, waren im Bankgeschäft tätig, und umgekehrt gehörten viele Jüdinnen und Juden im Mittelalter nicht zu einer reichen Oberschicht. Für den „Sozialneid“ gab es also keinen Grund. Dennoch findet sich diese Erklärung weiterhin in Schulbüchern.
Willems: Für den christlichen Religionsunterricht stellt sich noch die besondere Herausforderung, dass Jesus Jude war und das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen ist: Damit ist die Entstehung des Christentums auch ein Ergebnis eines Abgrenzungsprozesses. Das, wovon man sich abgrenzt – beispielsweise das biblische Judentum –, wird dabei teilweise verzerrt dargestellt, um selbst positiver zu erscheinen.
An einer veränderten Darstellung des Judentums in Bildungsmedien arbeiten Forschende und verschiedene Institutionen seit Jahrzehnten …
Dihle: Es ist in der Religionsdidaktik beileibe kein neues Thema, und es wird von vielen Seiten daran gearbeitet. Für Schulbücher für den Religionsunterricht gibt es zudem noch eine Besonderheit: Weil Religionsunterricht in Deutschland in fast allen Bundesländern eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche ist, durchlaufen die Schulbücher für den Religionsunterricht in allen Bundesländern ein kirchliches Prüfverfahren für ihre Zulassung. Gemeinsam im Netzwerk für antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik (narrt) sprechen wir daher die Menschen an, die für eine Zulassung zuständig sind. Außerdem beraten wir Verlage mit Blick auf eine antisemitismuskritische Perspektive. Allerdings muss man da auch immer sagen, dass – wie so oft im Leben – Ratschläge angenommen werden können oder nicht, dass diese Beratungsprozesse also offen sind.
Zu den Schwerpunkten Ihrer Forschung und Lehre gehören interreligiöse Kompetenz sowie Interreligiosität in der Religionspädagogik. Haben Sie konkrete Tipps für Lehrkräfte, um in Schulbüchern versteckte antijüdische Motive zu erkennen und ihren Religionsunterricht frei davon zu gestalten?
Willems: Ich gehe davon aus, dass wir alle in hegemoniale Strukturen verstrickt sind: Keine und keiner von uns wird einen Unterricht gestalten, der frei von diesen Motiven ist. Das gilt für verschiedene Diskriminierungsformen und damit auch für Antisemitismus. Wir können lediglich versuchen, ihn antisemitismuskritisch zu gestalten. Mit Rezepten ist es ja auch immer etwas schwierig, aber zu meinen Tipps gehört beispielsweise dieser: Achten Sie darauf, ob die Darstellung des Judentums stereotypisierend ist und das Judentum quasi als monolithischer Block dargestellt wird. Das Judentum ist ganz vielfältig und plural, es gibt orthodoxe, liberale, säkulare Jüdinnen und Juden: Wenn es in seiner Vielfalt zur Sprache kommt, fällt eine Schubladisierung und Abgrenzung schwerer. Ein „wir“ versus „die“ ist dann schwerer möglich, das beugt Antisemitismus vor.
Das Judentum ist ganz vielfältig und plural, es gibt orthodoxe, liberale, säkulare Jüdinnen und Juden: Wenn es in seiner Vielfalt zur Sprache kommt, fällt eine Schubladisierung und Abgrenzung schwerer. Ein „wir“ versus „die“ ist dann schwerer möglich, das beugt Antisemitismus vor.
Dihle: Thematisieren Sie Antisemitismus als Projektionsgeschehen: Es geht dabei nicht um das Verhalten realer Jüdinnen und Juden. Aber es ist auch wichtig, Judentum ohne Antisemitismus, als gelebtes Judentum zu zeigen, auf das sich Menschen in positiver, für sie bereichernder Weise beziehen. Lehrkräfte brauchen ein Wissen über antisemitische Narrative, die in der Lebenswelt ihrer Schüler*innen kursieren. An der Universität Bielefeld ist beispielsweise jüngst eine Studie zu verbreitetem Antisemitismus im Gangsta-Rap entstanden. Aber auch in Computerspielen, in Sozialen Medien wie YouTube, Instagram, TikTok kursieren antisemitische Narrative. Lehrkräfte müssen diese kennen, um zu erkennen, ob ein Material solche Narrative bestärkt, und sei es versehentlich.
Willems: Und mit Blick auf den christlichen Religionsunterricht ist vor allem auf den biblischen Jesus zu verweisen. Hier sollte man fragen: Wird Jesus als Jude in seiner jüdischen Umwelt gezeigt oder in einen völligen Gegensatz zu ihr gestellt – was Antijudaismus Vorschub leisten kann? Eine ganz wichtige Erzählung, die sehr wirksam für Antijudaismus geworden ist, ist dabei natürlich auch die Kreuzigungserzählung. Hier sollte man darauf achten, dass nicht „die Juden“ für den Tod Jesu verantwortlich gemacht werden. Denn dies ist historisch so nicht korrekt. Die Todesstrafe durch Kreuzigung konnten ausschließlich die römischen Behörden verhängen.
Und was ist angesichts des Krieges in Israel für den Schulunterricht wichtig?
Willems: Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse ist ein Blick darauf wichtig, wie Israel im Unterricht thematisiert wird. Auslöser des gegenwärtigen israelischen Militäreinsatzes im Gaza-Streifen waren unter anderem die Terroranschläge und Massaker durch die Hamas, bei denen etwa 1.400 Zivilistinnen und Zivilisten in Israel getötet und etwa 240 Personen entführt wurden. Die Gegenwehr mit dem Ziel, Hamas als Organisation so weit zu zerschlagen, dass sie keine weiteren Terroranschläge verüben und aus dem Gaza-Streifen nicht weiter Israel beschießen kann, führt weltweit und auch in Deutschland teils dazu, dass Israel dämonisiert und ihm sein Existenzrecht abgesprochen wird. Auch wenn die Konflikte und Kriege in Israel und Palästina seit dem 20. Jahrhundert häufig nicht im Religionsunterricht thematisiert werden: Die jüngere Geschichte und Gegenwart bilden auch hier einen Resonanzraum für das, was im Unterricht gesagt wird.
Interview: Deike Stolz
Die Tagung zu antijüdischen Narrativen in Schulbüchern führte die Evangelische Akademie zu Berlin gemeinsam mit der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem Zentralrat der Juden in Deutschland, dem Netzwerk für antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik, dem Comenius-Institut, der Universität Oldenburg und dem Verband Bildungsmedien e.V. durch.
Das Interview wurde zuerst auf der Website der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg veröffentlicht, mit deren freundlicher Genehmigung es hier erscheint.
Erschienen am 17.11.2023
Aktualisiert am 02.01.2024