"Antisemitismus geht uns alle an"
Vor dem Kirchentag: Im Gespräch mit Christian Staffa
Vor dem Kirchentag in Nürnberg hat das Magazin Bewegend mit unserem Studienleiter Christian Staffa über Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft gesprochen, außerdem über die Pläne der Bundesregierung zur Demokratieförderung und Extremismusprävention sowie die Rolle der Kirche beim Kampf gegen antijüdische Stereotype. Staffa ist zugleich Antisemitismusbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und christlicher Vorsitzender der AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag.
Frage: Der Antisemitismus in Deutschland nimmt weiter zu. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?
Staffa: Antisemitismus wird heute viel offener gezeigt als noch vor 15 Jahren. Das ist beunruhigend und wird durch die Dynamik in sozialen Medien verstärkt. Wir müssen endlich verstehen, dass Antisemitismus keine Randerscheinung ist, sondern bis in die Mitte unserer Gesellschaft reicht. Aus Umfragen geht hervor, dass 45 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass Juden ihre Geschichte ausnutzten und dass damit endlich Schluss sein müsste. Antijüdische Stereotype sind weit verbreitet durch alle Bildungsschichten. Insofern dürfen wir uns daran nicht gewöhnen, schon gar nicht als Kirche. Antisemitismus hat immer einen massiven negativen Einfluss auf das Demokratiebewusstsein. Er lagert die Konflikte, die Menschen mit sich, ihrem Glauben oder der Demokratie haben, aus und stülpt sie anderen über. So werden Juden zum Problem gemacht oder sind schuld an diesem. Während der Corona-Pandemie war das deutlich zu erkennen. Sehr schnell gab es antijüdische Verschwörungserzählungen. Da ist der Firnis dünn und deswegen müssen wir Antisemitismus sehr entschieden begegnen.
Die Bundesregierung hat erstmals einen Gesetzentwurf zur „Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung“ vorgelegt. Was erhoffen Sie sich?
Staffa: Seit vielen Jahren fordern wir ein solches Demokratiegesetz auf Bundesebene. Es ist wichtig, dass der grundgesetzliche Auftrag, Demokratie zu fördern, auch gesetzlich bundesweit verankert wird. Lange war die Vergabe von Mitteln für Demokratieförderprojekte Ländersache und daher von politischen Mehrheiten im jeweiligen Bundesland abhängig. Mein Wunsch wäre, dass wir alle Demokratieförderinstrumente des Bundes in den Blick nehmen und miteinander verknüpfen. Erfolgreiche Projekte müssten verstetigt werden und wir brauchen ein neues Bewertungsgremium, eine Art Kuratorium aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, um zu schauen, welche Ansätze passen und wo man andere Akzente setzen muss. Viele Programme sind zu restriktiv, da brauchen wir mehr Freiheit in der Gestaltung, also eher einen prozessorientierten Ansatz. Ob das neue Gesetz diese Wünsche erfüllt, wird auf die Ausführungsbestimmungen ankommen. Aber als symbolpolitischer und legislativer Akt ist das Gesetz wichtig.
Welche Rolle sehen Sie bei den Kirchen?
Staffa: Als Kirche sollten wir dort aktiv werden, wo antijüdische Bilder entstehen. Schließlich sind auch wir Tradierende von antijüdischen Stereotypen. Ich denke da zum Beispiel an die Pharisäer, den alttestamentarischen Rachegott, diese Vorstellungen sind medial sehr präsent. Das ist unser Erbe, gegen das wir antreten müssen. Das fängt schon in der Ausbildung von Pfarrer:innen an. Als AG Juden und Christen haben wir 2017 gemeinsam mit der Göttinger Uni ein Gutachten erstellen lassen, an welchen Fakultäten und religionspädagogischen Instituten Judentumskunde gelehrt wird. Das Ergebnis war erschreckend und lief gegen Null. Lehrplanmäßig kommt man also durchs Theologiestudium ohne auch nur ein Wort über gegenwärtiges Judentum erfahren zu haben. Das muss sich ändern. Das gleiche gilt für die religionspädagogischen Institute. Wir beschäftigen uns gerade mit evangelischen Religionsschulbüchern, die an vielen Stellen immer noch antijüdische Bilder produzieren. Auch unsere liturgischen Elemente sind nicht frei davon. Ich bin zum Beispiel ein großer Befürworter, die Abendmahlsformulierung „in der Nacht, da er verraten ward“ zu verändern. Dieses Verratsmotiv wird eben auch dem Judas und damit den Juden zugeschrieben. Es gibt viele Beispiele, darum mein Motto: Im Grunde müssten wir Christinnen und Christen alle Antisemitismusbeauftragte werden.
Was wünschen Sie sich für Kirche und Kirchentag?
Staffa: Mein Credo ist, dass wir eine gesellschaftlich relevante und selbstreflexive Kirche brauchen. Das bedeutet, wenn wir Gemeinschaft sein wollen, die nach außen wirkt, müssen wir selbstreflexiv nach innen sein. Wir müssen uns der eigenen Vergangenheit stellen. Das gilt auch für die antisemitischen Anteile, die wir als Kirche haben. Wenn wir uns diesen stellen und dies als Prozess verstehen, der uns inspiriert und uns näher an unsere Glaubensgrundlagen bringt, dann führt das gleichzeitig unsere Gesellschaft ein Stück näher an ihre demokratische Verfasstheit. Das wünsche ich mir von Kirche insgesamt und vom Kirchentag insbesondere.
Das Zentrum Juden und Christen bietet über 30 Veranstaltungen an – welche Impulse sollen vom Kirchentag ausgehen?
Staffa: Ein Impuls wäre, dass Judentum nicht als das Vergangene, sondern das Lebendige, Gegenwärtige zu sehen. Ein lebendiger Glaube, der Fragen aufwirft und Antworten gibt auf Lebensfragen, die wir alle teilen und die sich auch auf unsere gemeinsame Tradition beziehen. Dass sind auch Fragen, die in den Veranstaltungen aufgriffen werden: Wie gehen wir mit Sexismus und Diskriminierung in Christentum und Judentum um? Welche Gegenmodelle gibt es in beiden Religionen? Und wie schauen wir auf Israel? Ich wünsche mir einen weiten Blick, der nicht nur den Nahostkonflikt im Fokus hat, sondern diese unglaublich diverse Gesellschaft. Auf dem Kirchentag wollen wir die Aufmerksamkeit etwas umlenken und schauen, was diese noch sehr demokratische Gesellschaft eigentlich leistet. Das bedeutet nicht, dass wir die gegenwärtige tendenziell rassistische Regierung nicht harsch kritisieren. Gute Impulse geben sicher auch die Begegnungen mit jüdischen Menschen, ob in dialogischen Bibelwerkstätten, bei Synagogenbesuchen oder in unserem Format „Was Juden schon immer über Christ:innen wissen wollten.“ Wir wollen mehr interaktive Momente schaffen, wo Menschen sich austauschen und Fragen stellen können. Es wäre schön, wenn wir ein wirklich polyphones Bild vom Judentum vermitteln können.
Christian Staffa sowie unsere Projekte Bildstörungen und DisKursLab wirken beim Kirchentag in Nürnberg an mehreren Podien und Workshops mit. Einzelheiten entnehmen Sie bitte dem Programm des Kirchentags.
Das Interview veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung von Bewegend – Journal für die Freundinnen und Freunde des Deutschen Evangelischen Kirchentages (übernommen aus Ausgabe 1/2023). Die Fragen stellte Britta Jagusch.
Erschienen am 26.05.2023
Aktualisiert am 21.06.2023