„Das Wünschbare definieren“
Diskussion zum Friedensgutachten 2024 mit Keynote von Wolfgang Ischinger
Unser Zeitalter sei das einer gewissen Rechtlosigkeit, eine Art Wilder Westen. So lautet die Diagnose von Wolfgang Ischinger im Blick auf den aktuellen Zustand der internationalen Sicherheitspolitik, die von immer mehr Konflikten und Kriegen wie in der Ukraine und im Nahen Osten geprägt ist. Der langjährige frühere Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz kommentierte das diesjährige Friedensgutachten der großen Friedensforschungsinstitute bei der ersten Podiumsdiskussion nach dessen Veröffentlichung.
Publikation und Veranstaltung standen unter der Überschrift „Welt ohne Kompass“. Dieser Titel sei treffend gewählt, sagte Ischinger und bezeichnete die diplomatischen Verhandlungen und Erfolge der jüngeren Vergangenheit, die auf eine regelbasierte internationale Ordnung gezielt hatten, als „Trümmerhaufen“. Er sei überzeugt, dass es einen Weg zurück zum Status quo ante, also zu einer „stabil gedachten Sicherheitsarchitektur“, kurz- und mittelfristig nicht geben werde. Trotzdem sei es wichtig, „das Wünschbare zu definieren, weil wir sonst überhaupt keinen Kompass haben“. „Der Zeitpunkt der Diplomatie wird wiederkommen“, so der Sicherheitsexperte.
Im Blick auf den Krieg in der Ukraine betonte Ischinger, Friedensverhandlungen könnten nur dann mit ernsthaften Aussichten auf Erfolg begonnen werden, „wenn Wladimir Putin zu der Einsicht gelangt, dass der fortgesetzte Einsatz russischer militärischer Macht in der Ukraine nichts mehr bringt“. Er habe gelernt, wie wichtig es in solchen Fällen sei, „eine Lage herbeizuführen, in der diese Einsicht wächst“. Denn, so Ischinger: „Je länger diese Konflikte dauern, je mehr Opfer sie erzeugen, desto größer wird automatisch der Hass und desto schwieriger wird es, später Frieden im wahren Sinne des Wortes herbeizuführen.“ Deshalb müsse in jedem bewaffneten Konflikt das Motto lauten: „Wenn Bemühungen zum Frieden, dann nicht übernächstes Jahr, sondern jetzt.“
Im Anschluss an seinen Impuls diskutierten Ischinger, Christopher Daase vom Leibnitz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, Ljudmyla Melnyk vom Institut für Europäische Politik, Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, und dem SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner über die Ergebnisse des Friedensgutachtens 2024.
Herausgegeben wird das Gutachten seit 1987 von den vier großen deutschen Friedensforschungsinstituten: dem Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), dem Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen (INEF) und dem Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF). Zu der Diskussionsveranstaltung lud die Evangelische Akademie zu Berlin gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Villigst und den Herausgeberinnen und Herausgebern des Gutachtens ein.
Erschienen am 10.07.2024
Aktualisiert am 16.07.2024