„Die ganze zivilgesellschaftliche Breite berücksichtigen“

„Die zivilgesellschaftliche Breite berücksichtigen“

Interview mit Marwan Khoury von der Syrischen Demokratischen Allianz

Porträtaufnahme von Marwan Khoury

© privat

Mit dem Sturz des Assad-Regimes hat sich die Chance auf ein neues Syrien aufgetan. Die brutale Gewaltherrschaft von zwei Generationen der Assad-Familie gehört der Vergangenheit an. Allerdings ist unklar, wie es nun weitergeht. Viele Syrer*innen sehen einen Hoffnungsschimmer, um einen neuen, demokratischen Staat aufzubauen. Doch das Rebellenbündnis, das Syrien von Diktator Baschar al-Assad befreit hat, wird von einer islamistischen Gruppe mit terroristischer Vergangenheit angeführt. Wenig wird derzeit über die Situation der Kurd*innen in Syrien gesprochen, die schon länger den Nordosten des Landes kontorollieren. Auch die militärische Einmischung von Nachbarländern stellt das Land vor neue Herausforderungen.

Unter dem Dach der Evangelischen Akademie zu Berlin hat sich bei zwei Konferenzen 2023 und 2024 die Syrische Demokratische Allianz (SDA) formiert, ein Zusammenschluss zahlreicher demokratisch gesinnter Initiativen vor allem aus der Diaspora. Unser Studienleiter Oliver Schmidt hat mit SDA-Präsident Marwan Khoury über die jüngsten Entwicklungen gesprochen.

"Wunsch nach einem freien, rechtsstaatlichen Syrien"

Am 8. Dezember ist das brutale Regime von Baschar al-Assad gestürzt worden. Mit der Flucht des Diktators endete eine gewalttätige Herrschaft, die schon mit seinem Vater Hafiz al-Assad begonnen hatte. Wie hat das Regime die Bevölkerung unterdrückt?

Marwan Khoury: Mehr als 50 Jahre Diktatur haben tiefe Narben in der syrischen Gesellschaft hinterlassen. Die Angst in Assads Syrien war allgegenwärtig: die Angst, Opfer eines Willkürregimes zu werden; die Angst davor, seine politische Meinung äußern zu dürfen; die Angst davor, für einen Rechtsstaat einzutreten; die Angst, in einem der Foltergefängnisse des Regimes zu landen. Die Geheimdienste waren allgegenwärtig und hatten einzig und allein das Ziel, jegliche Kritik und Opposition am Assad-Regime zu unterdrücken. So viele Syrer haben nun nach dem Ende des Regimes das kaum beschreibbare Gefühl, frei atmen zu können. 

Mit dem Umsturz verbindet sich einerseits Erleichterung. Andererseits ist noch unklar, wie es nun politisch weitergeht. Was geschieht gerade in Syrien?

Khoury: Die Lage ist verworren. Es gibt verschiedene bewaffnete Rebellengruppen sowie im Nordosten Syriens, der von den Syrian Democratic Forces (SDF) gehalten wird, noch große Spannungen zwischen den kurdisch geführten SDF und türkisch unterstützten Gruppierungen. Dazwischen ist eine starke syrische Zivilgesellschaft von größer Wichtigkeit. Nur die Syrerinnen und Syrer können die Spaltung gemeinsam überwenden. Viele Rufe bei Demonstrationen der Zivilgesellschaft lauten: „Das syrische Volk ist eins, eins, eins.“ Das zeigt den Wunsch der Bevölkerung nach einem freien, rechtsstaatlichen Syrien. 

Es wird auch von der Befreiung politischer Gefangener gesprochen. Wie geht es diesen Menschen, wie ist ihre Situation?

Khoury: Tausende Gefangene sind in den vergangenen Tagen befreit worden. Das bekannteste Gefängnis ist das von Sednaya, das als „Schlachthaus des Regimes“ bezeichnet wird und in dem vor allem politische Gefangene gefoltert und getötet wurden. Doch im ganzen Land gibt es Folterzentren und Gefängnisse. Die größte Tragik in diesen Tagen ist, dass Hunderttausende Familien nach ihren Angehörigen suchen, die seit Jahren verschollen sind. Die Ungewissheit, ob ihre Angehörigen überlebt haben, schwebt über so vielen syrische Familien. Der Zivilschutz Syriens, die sogenannten Weißhelme, sucht die Massengräber des Regimes. Hier ist er aber auch auf die Mithilfe der UN-Organisationen angewiesen, die bisher ausbleibt. Viele der Massengräber und viele geheime Folterzentren sind noch nicht gefunden.   

Welche Sorgen bestehen jetzt? Gibt es tatsächlich eine Chance auf Befreiung und auf das Entstehen einer demokratischen Ordnung?

Khoury: In diesen Tagen überwiegt bei der Mehrheit der Syrer die Freude über den Sturz des Assad-Regimes. Viele der Millionen Binnenflüchtlinge, die seit Jahren in Zelten ausharren, viele der Flüchtlinge aus dem Libanon und der Türkei hoffen, in den nächsten Wochen und Monaten in ihre Heimatstädte zurückkehren zu können. Nach über 50 Jahren Diktatur will die syrische Zivilgesellschaft keinen Diktator mehr. Das gibt Hoffnung und eröffnet die Chance, dass ein Übergang gelingen kann. Er kann aber nur gelingen, wenn die Internationalisierung Syriens ein Ende hat – wenn die vielen Regionalmächte sich nicht gegenseitig ausspielen wollen – und wenn eine wirkliche Übergangsregierung entsteht, die die ganze zivilgesellschaftliche Breite berücksichtigt und auch die demokratische Zivilbewegung beteiligt.  

"Die Spaltung des Landes ist nicht überwunden"

Auch wenn die Menschen glücklich sind über den Regimesturz, gibt es viele unterschiedliche Gruppen in Syrien. Ist das Land weiterhin gespalten? Wie schafft man es, eine Einheit herzustellen?

Khoury: Die Spaltung des Landes ist nicht überwunden, sondern wird in den kommenden Jahren noch viel Mühe kosten. Sie kann auf Dauer nur überwunden werden, wenn eine neue syrische Regierung die Rechte aller Syrer und Syrerinnen garantiert, dass die Menschenwürde und die Frauenrechte geachtet werden und das System der Angst ein Ende findet. Ebenso wichtig ist, dass die Menschenrechtsverbrechen des Assad-Regimes juristisch aufgearbeitet werden, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, im gleichen Zuge aber keine Rache an Bevölkerungsgruppen verübt wird, die sich aus Angst sich nicht gegen das Assad Regime stellten.

Wie kann jetzt der politische Prozess der Demokratisierung vorangetrieben werden

Khoury: Von größter Wichtigkeit ist nun die Bildung einer inklusiven syrischen Übergangsregierung. Hier wird es auch Druck der internationalen Gemeinschaft brauchen, dass die breite syrische Zivilgesellschaft am Übergang beteiligt wird und die Zukunft Syriens nicht nur von den bewaffneten Gruppierungen diktiert wird. Viele syrische Oppositionelle, Intellektuelle, Parteien, Menschenrechtsanwälte und Aktivisten sind bereit, ihren Beitrag für ein künftiges freies, rechtsstaatliches Syrien zu leisten. Auch diese Stimmen müssen gehört werden. Nachdem Europa die letzten zehn Jahre die Syrerinnen und Syrer vor der Gewalt Assads im Stich gelassen hat, müsste es nun einen aktivieren Beitrag leisten und darauf dringen, dass alle politischen Gruppen und Strömungen an der Zukunft Syriens beteiligt werden. 

Was kann ihre Syrische Demokratische Allianz dazu beitragen, nun ein demokratisches Syrien aufzubauen? Welche Strategien verfolgen Sie?

Khoury: Über unser breites Netzwerk aus demokratischen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und Aktivisten vor Ort möchten wir unseren Beitrag für ein künftiges Syrien leisten, das die Rechte aller Syrerinnen und Syrer garantiert und in dem Folter niemals wieder Staatspolitik sein darf. 

Wir halten es für wichtig, dass in den künftigen nationalen und internationalen Konferenzen, die den Übergangsprozess einleiten sollen, auch basisdemokratische Initiativen wie unsere vertreten sind. Das Ende des Assad-Regimes ist ein erster Schritt für unseren Traum von einem freien Syrien. Dass ein freies Syrien entsteht, ist jedoch kein Automatismus, sondern braucht den Einsatz aller zivilgesellschaftlichen und revolutionären Aktivisten. Wir sollten uns alle darin einig sein, dass die Menschenwürde und der Rechtsstaat im Mittelpunkt des Handelns einer künftigen Übergangsregierung stehen müssen. 

Was benötigen Sie jetzt, um den Demokratisierungsprozess voranzutreiben?

Khoury: Viele Oppositionelle und Aktivisten sind in den letzten zehn Jahren aus ihrem Heimatland vertrieben worden und konnten sich nur noch aus dem Exil für ein freies Syrien einsetzen. Der Sturz des Assad-Regimes kam für alle überraschend. Nun wird es in den kommenden Wochen wichtig sein, dass die etablierten Strukturen der syrischen Opposition und Gruppen aus dem Exil in ihr Land zurückkehren und dass aktive Strukturen innerhalb Syriens aufgebaut werden. Demokratische Parteien konnten unter der Assad-Diktatur keine Büros und Strukturen besitzen; die Vernetzung war rein virtuell. Wichtig ist es daher, dass wir dabei unterstützt werden, dass syrische demokratische Parteien, Aktivisten und Initiativen nun im Land ihre Büros etablieren können, um den Demokratisierungsprozess nachhaltig voranzutreiben und zu unterstützen. 

Zur Person:  

Dr. Marwan Khoury war in den 1970er Jahren in einer der Oppositionsparteien aktiv, die sich für Demokratie in Syrien einsetzten. Anfang der 1980er Jahre wanderte er nach Deutschland aus. Während des Arabischen Frühlings gründete er 2011 die Barada Organization for Relief Work, die seitdem medizinische und andere humanitäre Hilfe in Syrien leistet. 2017 gehörte Khoury zu den Gründern der Gruppierung Syrian Bloc. Bei der Gründung der Syrischen Demokratischen Allianz wurde er zu deren erstem Präsidenten gewählt.
 

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Dr. Max Oliver Schmidt

Studienleiter Migration und Europa

Telefon (030) 203 55 - 588

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