Christliche Verantwortung für Antisemitismus

Christliche Verantwortung für Antisemitismus

Kaum ein Christenmensch versteht sich heute normalerweise dezidiert und offen als antijüdisch oder antisemitisch. Dennoch kommen bestimmte antijüdische oder antisemitische Bilder besonders in Krisenzeiten in Form von Verschwörungserzählungen an die Oberfläche. In diesen Erzählungen sind stets deutlich antisemitische Motive zu finden, die „den Juden“ Geldgier, Verrat, Verschwörung und Macht bzw. Kontrolle zuschreiben.

Solche Zuschreibungen sind leider von der christlichen Tradition geprägt. Dieses Erbe wird von säkularer Seite zu wenig wahrgenommen und von christlicher Seite unzureichend selbstreflexiv bearbeitet. Selbstreflexion aber wäre wichtig, um zu ergründen, wann und wozu wir ein so eindeutiges Negativbild als Gegenüber brauchen – ob alt gegen neu, Gesetz gegen Gnade, Rache gegen Liebe oder Fleisch gegen Geist.

Vereinfachende Dualisierungen dieser Art tauchen in verschiedenen Spielarten und Erscheinungsformen des Antisemitismus auf: in rechtsextremen Ideologien, in globalen Verschwörungsmythen, in islamistischen wie auch in manchen linken antikapitalistischen Denkmustern. Diese vereinfachte Weltsicht, dieses Gegeneinanderstellen eines phantasierten eigenen Guten mit einem ebenso phantasierten negativen Gegenüber, ist ein Wesenszug des Antisemitismus. Nicht erst seit dem terroristischen Großangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023, aber seitdem besonders sichtbar bezieht es sich in neuer, beängstigender Weise auch auf Israel.

Die Kirchen tragen bei diesem Thema eine besondere Verantwortung, weil so viele antisemitische Klischees aus der kirchlichen Tradition stammen – und weil der häufige Verweis auf „den Islam“ nicht selten das eigene antijüdische Ressentiment verdeckt.

Wahrhaftig, ich sage euch: Bevor Himmel und Erde vergehen, wird von der Tora nicht der kleinste Buchstabe und kein einziges Häkchen vergehen, bis alles getan wird. (Matthäus 5,18)

Dieser Satz von Jesus aus dem Matthäus-Evangelium ist in der Kirchen- und Theologiegeschichte – insbesondere im Protestantismus – leider gewaltförmig in sein Gegenteil verkehrt worden. Gesetzesfeindschaft und damit Judenfeindschaft sind so zu einem Fundament christlichen Glaubens geworden. Nicht zuletzt bildete dieses Fundament eine der Grundlagen für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und das weitgehende Fehlen eines kirchlichen Widerstands während der NS-Herrschaft.

Die kirchlichen Positionierungen nach 1945 haben zwar erkannt, dass dies eine fehlerhafte Interpretation biblischer Texte ist. Trotzdem leben antijüdische Bilder in Predigten, religionspädagogischen Kontexten und christlichen Glaubenserzählungen fort und bleiben auch in säkularen antisemitischen Stereotypen wirksam.

Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ (Galater 5,14)

Viele kirchliche Stellungnahmen machen sehr deutlich, dass Antisemitismus als Sünde zu verstehen ist. Denn das Angewiesensein auf ein Negativbild des Jüdischen, um den eigenen Glauben zu stärken, verweist auf ein mangelndes Vertrauen auf Gottes Verheißung an Israel und die Völker. Sünde verlangt Umkehr, und Umkehr braucht Nachdenken über sich selbst. Diese Selbstreflexion zeigt auf, dass Antisemitismus maßgeblich der Selbstidealisierung oder -stabilisierung dient. Das wird zum Beispiel in der immer noch wirksamen Gegenüberstellung sichtbar, wir (Christinnen und Christen) hätten die Gnade, sie (Jüdinnen und Juden) dagegen „nur“ das Gesetz. Dabei ist das ganze Alte Testament voll des Gnadenhandelns Gottes.

Eine christliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus bedeutet deshalb auch, die folgenden Fragen zu stellen:

  • Wie kann eine christliche Identitätsbildung in Predigten und kirchlicher Bildungsarbeit gelingen, die ohne das Judentum als negatives Gegenbild auskommt?
  • Stärken wir wirklich unseren Glauben, indem wir uns von vermeintlich gegensätzlichen Bildern abgrenzen, darunter Gnade anstatt Gesetz, Liebe anstatt Rache, Neu gegen Alt?
  • Wie werden Judas, Hohepriester, Pharisäer in unseren Erzählungen und Bildern dargestellt?
  • Wie positionieren wir uns, wenn uns im Alltag antisemitische Dualisierungen begegnen? Beispiele dafür sind Aussagen wie „Israel ist auch nicht anders als der Nationalsozialismus“, Vorurteile gegen jüdische Orthodoxe oder versteckte Andeutungen (Codes) über „reiche Juden, die die Finanzwelt kontrollieren“.

Eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen in Gemeinden und kirchlichen Bildungskontexten, in Familien und im Freundeskreis birgt die Chance zu entdecken, dass die Dynamik christlich geprägter antisemitischer Klischees nicht unausweichlich ist. Vielmehr gibt es sehr wertschätzende biblisch-theologische Bilder jüdisch-christlicher Beziehungsmöglichkeiten, die auch in der Gesellschaft insgesamt wirksam werden können.

Sie sind Israelitinnen und Israeliten, denen die Gotteskindschaft zu eigen ist, die göttliche Gegenwart, der Bund und die Gabe der Tora, der Gottesdienst und die göttlichen Verheißungen. (Römer 9,4)

Zentral für die christliche Beziehung zum Judentum ist, dass gerade Paulus, dem in der Tradition so häufig ein abwertendes Verhältnis zum Judentum nachgesagt wurde, die bleibende Erwählung Israels betont. Denn sie ist Gottes Wahl.

Die frühe Kirche und von da an viele theologische Äußerungen haben diese Erwählung immer als Kränkung erlebt, sie Israel abgesprochen und sich selbst als Krone aufgesetzt. Das tradierte Argument lief darauf hinaus, im Christentum hätten sich die Verheißungen erfüllt; damit sei das Judentum überflüssig geworden oder gar mit Gewalt zu bekämpfen. Von diesem Irrweg umzukehren, eröffnet eine völlig andere Perspektive: Die christliche Geschichte ist mit dem Judentum und dem Volk Israel unlöslich verbunden, denn Jesus war Jude.

Auch daraus ergeben sich Fragen:

  • Wie ist vor dem Hintergrund der biblischen Landverheißung und Erwählung vom heutigen Israel zu sprechen?
  • Wo und wie stellen wir – vielleicht unbewusst – Gottes Entscheidung in Frage, das Volk Israel zu erwählen?
  • Wie können wir über den Nahen Osten, den 7. Oktober und den Krieg im Gazastreifen diskutieren, ohne antisemitische Bilder von Israel und „den Juden“ zu reproduzieren?

Die hier skizzierten Problemfelder, Glaubensüberzeugungen und Fragen lösen nicht alle Probleme in diesem Themenfeld und werden neue Fragen entstehen lassen. Vielleicht können sie aber christlich-selbstkritische und hoffnungsvolle gesellschaftliche Debatten anstoßen.

Weiterführend zum Thema:

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Dr. Christian Staffa

Studienleiter für Demokratische Kultur und Kirche

Telefon (030) 203 55 - 411

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