Migration und Flucht als Pulsgeber demokratischer Gemeinschaft

Migration und Flucht als Pulsgeber demokratischer Gemeinschaft

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, ich bin der HERR. (Levitikus 19,18)

Gesellschaftlich und politisch ist Migration derzeit eines der am meisten umstrittenen Themen. Es beherrscht die aktuellen Wahlkämpfe. Obwohl Migration eine historische Konstante ist, stellt sie Gesellschaften vor Herausforderungen. Etablierte Vorstellungen von Zugehörigkeit werden irritiert, Weltbilder hinterfragt. Das führt regelmäßig zu Kritik und Konflikten: Können wir mehr Menschen aufnehmen? Müssen wir das wirklich? Passen wir zusammen? Ganz praktisch: Wo können die Menschen, die ohne Hab und Gut zu uns kommen, untergebracht werden? Wie können wir inklusiv sein? Und: Wollen wir das überhaupt?

Einerseits gehört die Arbeit mit Geflüchteten zum Kern christlichen Selbstverständnisses. Viele Gemeinden engagieren sich mit ihnen und für sie, Kollekten werden für Geflüchtete gesammelt, es gibt eine Kirchenasylbewegung. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist mit den Seenotrettungsschiffen der Initiativen Sea-Watch und United4Rescue direkt im Mittelmeerraum präsent. Andererseits gibt es auch in kirchlichen Gemeinden kontroverse Debatten um die Aufnahme von Flüchtlingen – bisweilen herrscht ein Gefühl der Überforderung.

In der aufgeregten Debattenlage ist es sinnvoll, zunächst einmal deutlich zu machen, worum es geht. Denn es gibt ja ganz unterschiedliche Gründe, warum Menschen ihr Land verlassen:

Menschen kommen zu uns aufgrund von Kriegen, Hungersnot, Armut oder politischer Verfolgung. Ihre Herkunftsländer bieten keinen Schutz mehr für Leib und Leben. Seien es Vertriebene, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, die Russlanddeutschen, die nach 1990 nach Deutschland kamen, seien es Syrer*innen, die vor Bürgerkrieg und Diktatur in ihrem Land flohen, Afghan*innen, die Schutz vor den Taliban suchen, Kurd*innen, die politisch in der Türkei verfolgt werden, Eritreer*innen, die vor der Diktatur fliehen.

Migration kann aber auch freiwillige Mobilität sein. Deutsche sind massenhaft in die USA ausgewandert. Nach 1945 sind viele Menschen aus Italien oder der Türkei nach Deutschland gekommen und haben geholfen, ein von Diktatur und Krieg zerrüttetes Land neu aufzubauen. Die Arbeitsmigration der 1960er und 1970er Jahre wie auch die Fluchtmigration der 1990er und 2010er Jahre haben dazu beigetragen, dass das Land und die Menschen in Wohlstand leben konnten.

Mit ihrem Handeln und ihrer Innovationskraft sind Migrant*innen sinngebend für die europäische Gemeinschaft. Neben neuen Arbeitsmöglichkeiten hat die Reise- und Niederlassungsfreiheit in der Europäischen Union zu kulturellem Austausch und zum Wachsen einer pluralistischen und diversen Gesellschaft geführt. Seit mehreren Jahrzehnten leben die EU-Bürger*innen trotz großer Herausforderungen in ihrer gesellschaftlichen Vielfalt friedlich miteinander.

Ein kirchlicher Beitrag zum Umgang mit Migration

In einer vielfältigen Gesellschaft stehen wir neben- und miteinander mit gleicher Würde und gleichen Menschenrechten. Gleichzeitig müssen die Ängste aller wahrgenommen werden. Doch Angst sollte nicht handlungsleitend werden.

Ein kirchlicher Beitrag in dieser Situation könnte sein, Räume zu öffnen, zuzuhören, unbegründete Ängste zu nehmen. Es lohnt, die mutigen Stimmen zu hören, die mit der Aufnahme von Geflüchteten und Migrant*innen in unserer Mitte in gemeinsamer Kraftanstrengung eine florierende Gemeinschaft aufgebaut haben. Es lohnt wahrzunehmen, dass unsere Wirtschaft ohne Migration nicht weiter gedeihen können wird. Es lohnt, ins Gespräch zu gehen. Und es lohnt immer, die Schwächsten im Blick zu behalten. Am Umgang mit ihnen beweist sich eine Demokratie.

Welchen Resonanzraum eröffnen uns biblische Geschichten? Eine Botschaft ist klar: Weil alle Menschen Gottes Ebenbilder sind, muss die Bewahrung der Menschenwürde von Geflüchteten im Zentrum aller Überlegungen stehen. Auch ist Nächstenliebe zentraler Bestand christlicher Ethik. Aber wie verstehen wir diesen Auftrag der Nächstenliebe? Wie weit reicht sie? Endet sie bei einer Menschengruppe?

Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen deinen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst. (Lukas 10,27)

In Lukas 10,29 greift Jesus die eingangs genannte Passage aus der Tora auf und wird sogleich mit der Frage konfrontiert „Wer ist denn mein Nächster?“ Jesus antwortet hierauf mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Er schließt mit der Frage, wer in der Erzählung dem betroffenen Menschen der Nächste sei, woraufhin sein Gegenüber ihm antwortet „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Jesus erwidert: „So geh hin und tu desgleichen!“

Das Gleichnis lässt binäre Weltsichten von „uns“ und „denen“ ins Leere laufen. Die Erzählung gibt keine Antwort auf die Frage „Wer ist mein Nächster?“. Sie arbeitet sich nicht daran ab, das Gegenüber zu definieren. Stattdessen wandelt Jesus die Frage um, indem er fokussiert, was es bedeutet, einem anderen Menschen der Nächste zu sein: dass uns nicht die Frage beschäftigen sollte, welcher Mensch mit welchen Qualitäten und Voraussetzungen zu unseren Nächsten gehört. Vielmehr bestimmen allein unser Verhalten und die Barmherzigkeit, die wir zeigen, wem wir die Nächsten sind.

Niemals war (Flucht-) Migration ohne Konfliktpotenzial. Die biblischen Texte sind über weite Teile Migrationsliteratur und die Fluchterfahrung des Volkes Israel hat sich tief in Gottesvorstellungen eingegraben. Gerade deswegen sollten wir Migration in unserem Handeln mitdenken. Migration ist die paradoxe Intervention für Gemeinschaft, indem sie uns weiter irritieren wird. Sie wird zu Reflexion anregen, und gleichzeitig können wir im Dialog diese Irritation auflösen und neue Situationen entstehen lassen. Migration ist Ausdruck des Werdens.

Weiterführend zum Thema:

Dr. Max Oliver Schmidt

Studienleiter Migration und Europa

Telefon (030) 203 55 - 588

Hoffnung in bedrohten Zeiten

Christliche Beiträge zur Demokratie heute

Wir glauben, dass Gott uns nicht den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit gegeben hat. (2. Timotheus 1,7) Gesellschaftliche Debatten nehmen seit einiger Zeit an Schärfe und Polemik zu. Die These von der gespaltenen Gesellschaft ist zum medialen Dauerthema geworden. …

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