Wohin gehören wir? Identität, Nationalität und Glaube

Wohin gehören wir?

Identität, Nationalität und Glaube

Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich! (Micha 4,5)

Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. (Galater 3,28)

Vorstellungen von nationaler Geschlossenheit und Volksgemeinschaft aus Abstammung betreten gerade wieder lautstark die politische Arena. Die AfD und ihr politisches Umfeld fordern Massenausweisungen unter dem Begriff der „Remigration“. Deshalb ist es nötig, im Vorfeld der kommenden Wahlen über unser Verhältnis zu Nation und Volk nachzudenken. Als Christinnen und Christen tun wir dies auf dem Hintergrund biblischer Bilder und Visionen.

In der Vision des Propheten Micha treffen sich die Völker am Berg Gottes. Jedes Volk behält seine eigene Identität. Trotzdem entdecken alle etwas Gemeinsames, das sie zusammenleben und ihre Schwerter in Pflugscharen verwandeln lässt. Wenn wir heute darüber nachdenken, was in der Bibel mit Volk gemeint ist, tun wir dies in der Regel im Konzept der Nation als einem Raum, in dem Menschen gemeinsam leben, sich eine Regierungsform gegeben haben und ihre gesellschaftlichen Vorstellungen umsetzen. Die Idee der Europäischen Gemeinschaft ruht auf verschiedenen nationalen Identitäten und demokratischen Konstruktionen, die von gemeinsamen Wurzeln, Werten und Visionen ausgehen. Zu ihnen gehören Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Mitglieder der heutigen Europäischen Union wollen gemeinsam ihre Zukunft gestalten, ohne ihre Selbstständigkeit aufzugeben.

Ist es für mich wichtig, zu Europa zu gehören?
Welche Wurzeln, Visionen und Werte teilen wir in der Europäischen Union und darüber hinaus?

Paulus wendet sich gegen eine Idee von Volk und Gesellschaft, in denen Rechte nach Geburt und Herkunft verteilt werden. In Christus entsteht eine neue Identität innerhalb der Gemeinde, die alles Vorhergehende überwindet. Auf unsere moderne Welt hin gedacht, gestalten Menschen, die in einem Staat zusammen leben, gemeinsam ihre Geschicke. Nationalität in diesem Sinne ergibt sich nicht aus Tradition, sondern daraus, dass Menschen gemeinsam einen politischen Raum verantworten und Ideen teilen.

Was ist für mich Zugehörigkeit und Heimat?
Ist Unterschiedlichkeit Stärke oder Bedrohung?

In Europa etablieren sich derzeit Bewegungen, die je Land ein gedachtes einheitliches Volk mit einer nationalen Identität ins Zentrum stellen. Die Volksgemeinschaft im Staatsgebiet wird mit Ausschlussphantasien belegt; andere Nationen werden abgewertet, andere Herkunft als minderwertig bezeichnet. Die behauptete Überlegenheit gründet sich auf eine bestimmte Interpretation der christlich-abendländischen Tradition: Sie speist sich aus einem Verständnis, in dem griechische Philosophie und ein im antiken Athen entwickeltes Politikverständnis mit Vorstellungen von christlicher Erwählung und einem geeinten Reich verbunden werden.

In der Bibel hingegen entdecken wir, dass Paulus die Bedeutung von Nationalität deaktiviert – und die von Geschlecht und gesellschaftlichen Status gleich mit. Glaube an Jesus Christus bedeutet Überschreitung von Grenzen und Aufbruch in neue Verhältnisse. Die Apostelinnen und Apostel kehren zwischen Ostern und Pfingsten nicht in den Schutzraum ihrer alten Gemeinschaft zurück, sondern lassen sich von einer Kraft leiten, die Sprach- und Verständnisgrenzen sprengt und ins Weite führt.

Fällt es mir leicht, die biblische Offenheit anzunehmen?

Die Erfahrung der christlichen Urgemeinde nach Pfingsten ist: Vielfalt macht stark. Die Apostelinnen und Apostel sprengen die Grenzen ihrer Angst, ihrer Sprache, ihrer Herkunft und brechen auf ins Weite. In ihrer Geschichte haben die christlichen Kirchen häufig die grenzüberschreitende Botschaft ignoriert, das völkerverbindende Evangelium in nationale Hierarchien umgemünzt und Gott als einen Gott beschrieben, der die Sieger und Erfolgreichen erwählt. Das steht ganz im Gegensatz zur jüdischen Tradition, in der Erwählung ein anspruchsvolles Geschehen ist, das die Erwählten keineswegs heraushebt, sondern unter teilweise komplizierte Ansprüche stellt, die oft nicht leicht erfüllbar sind. Das erwählte Volk bewegt sich nicht in einem Überlegenheitsgeschehen, sondern innerhalb einer anspruchsvollen Auseinandersetzung im Gottesbund.

Zu unserem Lernprozess als evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Fall des Eisernen Vorhangs gehört die Besinnung auf die menschen- und völkerverbindende Botschaft der Propheten und des Evangeliums. Nationalismus gehört zum Reich der Finsternis. In der Spannung zwischen Homogenität und Weltoffenheit gilt es an einem Raum zu arbeiten, in dem verschiedene Identitäten nicht zu Konflikt führen, sondern sich ergänzen.

Wo stehen wir als Kirche heute?
Worauf bauen wir?
Was sind unsere Grundüberzeugungen?

Heinz-Joachim Lohmann

Stellvertretender Direktor und Studienleiter für Demokratische Kultur und Kirche im ländlichen Raum

Telefon (030) 203 55 - 510

Hoffnung in bedrohten Zeiten

Christliche Beiträge zur Demokratie heute

Wir glauben, dass Gott uns nicht den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit gegeben hat. (2. Timotheus 1,7) Gesellschaftliche Debatten nehmen seit einiger Zeit an Schärfe und Polemik zu. Die These von der gespaltenen Gesellschaft ist zum medialen Dauerthema geworden. …

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