Migration tut not
Warum wir aufeinander angewiesen sind
400 000. Das ist die Zahl von Menschen, die laut dem Forschungsinstitut IAB der Bundesagentur für Arbeit jährlich nach Deutschland einwandern müssten, damit das Arbeitskräfteangebot in den nächsten Jahrzehnten konstant bliebe. 400 000 Menschen, jedes Jahr. Die Stimmung im Land ist, vorsichtig gesagt, für diese Notwendigkeit nicht hilfreich.
Im Zentrum der Wahlkämpfe in Thüringen, Sachsen und Brandenburg stand das Thema Migration. Es ging dabei indes nicht um die Frage, wie man mehr Menschen dazu bewegen könnte, nach Deutschland zu kommen; sondern im Gegenteil darum, wie man genau dies möglichst effizient vermeiden könne. Grenzkontrollen, Abschiebung, gar „Remigration“ – das sind die Schlagwörter der Stunde, inzwischen auch in der politischen Mitte.
Migration für Arbeit und Migration für Asyl sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe, so mag man einwenden. Stimmt. Aber obwohl Deutschland internationalen Umfragen zufolge ein attraktives Einwanderungsland für Erwerbstätige ist, werden uns doch empfindliche Mängel attestiert: Menschen, die nach Deutschland für die Arbeit kommen (wollen), beklagen Rassismus, mangelnde Willkommenskultur und hohe bürokratische Hürden.
Wenn Diskriminierungserfahrungen auf der Straße an der Tagesordnung sind, wenn in Talkshows unverhohlen gegen Menschen aus anderen Ländern gewettert wird, wenn die Wohnungssuche für Menschen, die nicht Maier oder Müller heißen, zu einer Lotterie mit ungewissem Ausgang wird – dann sind das auch rein ökonomisch gesehen keine guten Nachrichten. Denn Arbeitskräfte werden auch anderswo gebraucht. Staaten, die wirtschaftlich auf Einwanderung angewiesen sind, tun gut daran, Bedingungen zu schaffen, die Menschen auch hierherlocken und bleiben lassen.
Doch selbst unter angenommenen Idealbedingungen ist es fraglich, ob dauerhaft ausreichend Fachkräfte gewonnen werden könnten. Fachkräfte sind Mangelware, auch weltweit. Arbeits- und Migrationsforscherinnen verweisen darauf, dass es wirtschaftlicher sein könnte, diejenigen auszubilden, die ohnehin schon hier sind.
Sie finden diesen Blick auf Migration reichlich pragmatisch bis unchristlich? Bei Migration fallen Ihnen die biblischen Geschichten ein, die voll sind von Erfahrungen der Diaspora, des Exodus, der Flucht; fallen Ihnen der Barmherzige Samariter oder das Doppelgebot der Liebe ein? Sie wollen nicht, dass Menschen auf ihren Beitrag zum Bruttosozialprodukt reduziert werden? Dann geht es Ihnen wie mir. Aber in hochemotionalen Debatten, in denen „Gutmensch“ noch eine freundliche Anrede ist, wenn man zaghaft einwendet, dass das Recht auf Asyl doch ein Ankerpunkt des Rechtsstaates sei, lohnt es, verschiedene Perspektiven einzunehmen.
Insofern ist es gut, dass die EKD-Synode für 2024 das Schwerpunktthema Migration gesetzt hat. Wichtiger aber noch wird sein, was wir als Kirche daraus machen. Denn auch wenn die Zeichen gerade anders stehen: Menschen brauchen uns, um in Sicherheit leben zu können. Aber mindestens ebenso sehr brauchen wir Menschen, die zu uns kommen wollen. Das eine wird nicht ohne das andere zu haben sein.
Diese Kolumne unserer Direktorin Friederike Krippner ist am 1.11.2024 in der evangelischen Monatszeitschrift zeitzeichen erschienen, zu deren Herausgeber*innenkreis Krippner gehört.
Erschienen am 31.10.2024
Aktualisiert am 01.11.2024