„Verantwortung endet nicht mit der Legislaturperiode“

„Verantwortung endet nicht mit der Legislaturperiode“

Interview zur Lage gefährdeter Menschen aus Afghanistan

© Theresa Breuer/Kabul Luftbrücke

Blick auf Afghanistans Hauptstadt Kabul

Rund dreieinhalb Jahre nach der Rückkehr der islamistischen Taliban an die Macht ist die politische und humanitäre Lage in Afghanistan nach wie vor schwierig, für viele Menschen gar lebensbedrohlich. Haushaltskürzungen und die vorgezogene Bundestagswahl drohen nun, das Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghan*innen zum Scheitern zu bringen.

Bei einer Online-Veranstaltung in Kooperation mit der Initiative Kabul Luftbrücke sprechen wir am 11. Februar über die aktuelle Lage im Land und über die Aussichten, weiterhin Schutz für besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan zu organisieren. Wir haben Pauline Fischer von Kabul Luftbrücke vorab zu den derzeitigen Entwicklungen befragt.

Wie stellt sich die Situation derzeit in Afghanistan dar? Wie sieht es für Frauen, Kinder und vulnerable Gruppen wie LGBTQ aus?

Pauline Fischer: Die gesamte humanitäre Situation im Land ist besorgniserregend. Aber diese Gruppen werden darüber hinaus politisch verfolgt. Sie werden systematisch von jeglicher Form gesellschaftlicher Teilhabe insbesondere im öffentlichen Raum ausgeschlossen. Mädchen wird heute in Afghanistan jegliche Schulbildung verwehrt, die über die sechste Klasse hinausgeht. Frauen und Mädchen dürfen Häuser ohne männliche Begleitung nicht verlassen, ihre Stimme in der Öffentlichkeit nicht erheben. Rechte von Frauen in der Ehe existieren nicht. Frauen, die sich dieser Unterdrückung widersetzen, drohen Sanktionen bis hin zur Todesstrafe.

Angehörige der LGBTIQ-Community werden durch die Taliban identifiziert und verfolgt. Ihnen drohen ebenfalls Todesstrafen, Folter und sexualisierte Gewalt. Die Berichterstattung zu solchen Fällen ist erheblich erschwert, sodass sie nicht mehr zwangsläufig an die Öffentlichkeit geraten. Die Verfolgten leben versteckt und in Angst.

„Durch die vorgezogene Wahl um mehrere Monate verkürzt“

Wie wirkt sich die vorgezogene Bundestagswahl auf die Aufnahme von Afghan*innen aus?

Fischer: Die Aufnahmeanordnung, die die Rechtsgrundlage für den Aufnahmen gemäß dem Aufenthaltsgesetz darstellt, ist zeitlich auf die Dauer der Legislaturperiode begrenzt. Das bedeutet, dass das Programm durch die vorgezogene Wahl um mehrere Monate verkürzt wurde. Schon zuvor hatte das Bundesinnenministerium (BMI) seit Juli als Folge des Haushaltsentwurfs keine weiteren Aufnahmezusagen mehr im Rahmen des Programms erteilt. Das zögert weitere Aufnahmen immer weiter hinaus, bis sie bald nicht mehr möglich sein werden.

Dabei könnte es ganz anders laufen: Trotz des Haushaltschaos wurden Mittel bewilligt; sowohl der Bundestag als auch das Finanzministerium haben das federführende BMI dazu aufgefordert, weitere Aufnahmezusagen zu vergeben.

„Es ist zentral, dass die Bundesregierung die Verfahren vor Ort beschleunigt“

Pakistan droht, 3000 Afghan*innen mit Aufnahmezusage auszuweisen. Was bedeutet das für die Betroffenen? Wie kann hier geholfen werden?

Fischer: Seit Anfang des Jahres hat sich die Situation afghanischer Schutzsuchender in Pakistan nochmal massiv verschlechtert. Auch in der Vergangenheit hatte es Razzien, Festnahmen und Abschiebungen nach Afghanistan gegeben. Allerdings waren Menschen, die bereits eine Aufnahmezusage für Deutschland hatten, in der Regel vor diesem Vorgehen geschützt. Wir hatten die Vergabe von Schutzbriefen angeregt, die auch eine Zeit lang Wirkung zeigten.

Nach dem Non-Refoulement-Prinzip sollten zwar alle Schutzsuchenden aus Afghanistan Schutz vor Zurückweisungen nach Afghanistan genießen. Aber der Bundesregierung kommt natürlich eine besondere Verpflichtung mit Blick auf die Menschen zu, die sich aktuell in den Sicherheits- und Visumverfahren an der Botschaft befinden – und die dazu dort ihre Pässe und somit auch ihre Aufenthaltsnachweise für Monate abgeben müssen. Es ist zentral, dass die Bundesregierung die Verfahren vor Ort beschleunigt, denn durch die aktuelle Dauer der Verfahren harren die Menschen mit Aufnahmezusage über eine lange Zeit in Pakistan aus – einem Land, in dem bereits Millionen afghanische Geflüchtete leben.

Auch gültige Visa und die erwähnten Schutzbriefe sind von zentraler Bedeutung – gerade jetzt, wo die pakistanische Visumpolitik zunehmend repressiv wird. In Ernstfällen muss die Botschaft bei den pakistanischen Behörden intervenieren. Dies ist in den sechs Fällen, die bekannt geworden sind, offenbar auch geschehen. 

„Bedarf, langfristige Engagements einzugehen“

Wie lässt sich auch unter einer kommenden Bundesregierung politische Zustimmung für die Aufnahme gefährdeter Afghan*innen finden?

Fischer: Die humanitäre Aufnahme aus Afghanistan wird aktuell in öffentlichen Debatten meist undifferenziert und durch die Brille eines rechtspopulistischen Diskurses dargestellt. Gerade in diesem Kontext ist es uns wichtig, den demokratischen Parteien klarzumachen, dass Deutschlands Verantwortung mit Blick auf Afghanistan nicht mit der aktuellen Legislaturperiode beendet ist. Auch in Zukunft müssen wir uns einbringen und unterstützen. Und eine menschenrechtskonforme und zukunftsgewandte Migrationspolitik inklusive humanitärer Aufnahmeprogramme und Resettlement ist dabei ein zentrales Element. Hier sehen wir den Bedarf, langfristige Engagements einzugehen, die über eine Legislaturperiode hinausgehen und auf Menschenrechtsstandards basieren, nicht auf Wahlprogrammen.

Abseits polemischer bis populistischer Schlagabtausche haben wir den Eindruck, dass Vertretende aller demokratischen Parteien auch zu diesem Schluss kommen. Diese Akteure möchten wir darin unterstützen, diese Positionen innerhalb ihrer Parteien nach vorne zu bringen und sich nicht durch populistische Verkürzungen die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Aber das ist in diesen Zeiten keine einfache Aufgabe.

Was macht eigentlich die Haushaltssperre mit der NGO-Arbeit?

Fischer: Da wir uns ausschließlich über Spendengelder finanzieren, hatte der Haushaltsstopp keinen direkten Einfluss auf die Gelder, die uns als Organisation zur Verfügung stehen. Indirekt wirkt es sich aber auf alle zivilgesellschaftlichen Akteure aus, wenn psychosoziale Zentren und Migrationsberatungsangebote kaputtgespart werden. Denn die Zielgruppen dieser Programme, die dadurch schlecht versorgt werden, klopfen dann an alle Türen, die sich finden lassen – auch an unsere.

„Wir als NGOs überbringen die Hiobsbotschaften“

Können wir bedrohten Afghan*innen überhaupt noch Zuversicht bieten bei all den Leid und der Unsicherheit, die sie erfahren?

Fischer: Ehrlicherweise ist es in der aktuellen Situation schwierig, Schutzsuchenden, die bisher keine Aufnahmezusage nach Deutschland erhalten haben, positive Aussichten zu bieten. Denn de facto gibt es die in sehr wenigen Fällen. Darüber hinaus macht die aktuelle Situation die Position der NGOs prekär, die in das Bundesaufnahmeprogramm involviert sind. Denn wir sind die direkten Ansprechpersonen für gefährdete Menschen, deren Fälle sich bereits im Apparat für die Auswahl zur Aufnahme nach Deutschland befanden und deren Anträge die zuständige Bundesbehörde nun nicht mehr abschließend bearbeiten kann. Wir als NGOs sind nun diejenigen, die die Hiobsbotschaften an die Schutzsuchenden überbringen.

Außerdem stehen wir mit Menschen in Kontakt, deren Visumgesuche im Rahmen der Einreiseverfahren nach Deutschland abgelehnt worden sind. Diese Menschen haben häufig all ihren Besitz verkauft und stehen vor dem Nichts. Auch wenn wir ihnen und ihren Familien keine finanzielle Unterstützung in Form von humanitärer Hilfe vor Ort anbieten können, zeigen wir ihnen Rechtswege auf und beraten sie. Uns ist es wichtig, dass diese Menschen wissen, dass es in Deutschland Stimmen gibt, die sich für rechtsstaatliche Verfahren und Grundrechte einsetzen und dafür, dass diese Standards auch für Schutzsuchende Afghan:innen gelten.

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Dr. Max Oliver Schmidt

Studienleiter Migration und Europa

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