Toxische Leitvorstellung Familie
Reiner Anselm über die Schattenseite eines Gemeinschaftsideals

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Vater, Brüder, Schwestern: Die Begrifflichkeit des Familialen ist aus dem christlichen Glauben nicht wegzudenken: Über die Folgen dieser Semantik hat der Theologe Reiner Anselm bei einem Online-Abend im Rahmen unserer Reihe Familie 2025 gesprochen.
Christinnen und Christen sprechen Gott im Gebet als "Unser Vater im Himmel“ an, sie sehen sich selbst als Schwestern und Brüder im Glauben, bilden eine Familie. Wer so redet, assoziiert damit möglicherweise Wärme, Nähe und Geborgenheit. Vor allem aber ruft der Familienbegriff einen Kontext auf, in der andere Regeln als im gesellschaftlichen Miteinander gelten: Dort das Recht, hier das Vertrauen. Dort die Gerechtigkeit, hier die Barmherzigkeit.
So verstanden, kann die Familie einen Schutzraum gegen „die Welt da draußen“ bieten. Sie kann aber auch zu einem Ort werden, in dem die Rechte der Einzelnen zugunsten der Werte der Familie zurückstehen müssen. Das Konzept der Familie kann so dazu führen, dass Freiheiten beschnitten oder gar Grenzen überschritten werden. Dann erweist sich – im Privaten wie in der Kirche – Familie als toxischer Zusammenhang. Unter dem nur oberflächlich heimeligen Mantel der Familie kann sogar Gewalt nicht nur geduldet, sondern auch befördert werden. Denn der Begriff und die damit verbundene Vorstellung von Familie ermöglichen, Widerspruch und Abwehr moralisch zu diskreditieren und als Ausbruch aus der vermeintlich heilen Welt der Familie zu sanktionieren.

In seinem Impulsvortrag, den wir hier als Videomitschnitt dokumentieren, wirft Anselm einen kritischen Blick auf das „Familienpapier“, das der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 2013 als Orientierungshilfe unter dem Titel Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken vorlegte. Mit seinem Plädoyer für das Leitbild einer „partnerschaftlichen Familie“ hatte es seinerzeit eine Kontroverse ausgelöst. Zugleich plädiert der Theologe dafür, verstärkt über eine allgemeine „Ethik der Nähe“ nachzudenken. Und er gibt Anstöße dazu, was überhaupt Gegenstand einer evangelischen Familienethik sein kann.
Reiner Anselm lehrt als Theologe an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und beschäftigt sich in seinen Forschungen insbesondere mit Politischer Ethik und Bio- und Medizinethik. Er ist ehemaliger Sprecher der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD und im heutigen Kammernetzwerk der EKD engagiert.
Die Veranstaltung war Teil der Reihe Familie 2025: Zwischen Ideal und Wirklichkeit, die im Zentrum unseres Jahresthemas Familie steht. Familie begegnet uns im Jahr 2025 in Form ganz unterschiedlicher Fürsorgebeziehungen – zugleich sind Politik, Kirche und Gesellschaft immer noch stark auf das Konzept einer Kleinfamilie ausgerichtet. Welche Brüche und Spannungen ergeben sich daraus für Familien? Muss sich etwas ändern?
Erschienen am 19.03.2025
Aktualisiert am 20.03.2025