Neue Formen der Solidarität und neue Auseinandersetzungen
Beobachtungen in einer veränderten Welt 1 - Heinz-Joachim Lohmann
Noch wenige Tage sind es bis Ostern. Wie verbringen wir diese Zeit? Die Akademie stellt Überlegungen an zu Themen, die in Corona-Zeiten aktuell werden, und solchen, die jetzt vor neuem Hintergrund gedacht und diskutiert werden sollten. Der Eröffnungsbeitrag über „Beobachtungen in einer veränderten Welt“ kommt von Heinz-Joachim Lohmann.
Die Wissenschaft gibt den Weg vor. Regierungen treffen ihre Entscheidungen parteiübergreifend. Die Menschen reagieren besonnen und einsichtig. Tiefgehende Einschnitte in Lebensführung, Bewegungsfreiheit und persönliches Auskommen erfahren breite Akzeptanz. Schutz menschlichen Lebens steht über allen anderen Fragen der Gesellschaftsorganisation.
Redeten wir über die Erderwärmung, dann klänge es so, als hätte die Fridays-for-Future-Bewegung die Blaupause für das öffentliche Handeln geschrieben.
Jetzt setzen wir uns aber mit einem sich exponentiell verbreitenden Virus auseinander. Der Blick auf Italien und Spanien weckt Erinnerungen an Bilder von den großen Seuchen des Mittelalters. Unsere Bemühungen beschäftigen sich damit, wie wir die Wirkung der Beschränkungen mildern, eindämmen und überwinden können. Dabei tritt das Bewusstsein unserer Grenzen messerscharf vor unsere Augen.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren sprechen wir nicht darüber, dass sich Dinge rechnen müssen, sondern dass das Notwendige zu tun ist. Dieses Notwendige besteht insbesondere? aus einer Einschränkung physischer Kontakte im öffentlichen Raum. Nun arbeiten alle daran, wie viel physischer Raum durch digitale und virtuelle Kontakte ersetzt werden kann. Kirchengemeinden verlegen ihre Gottesdienste auf Internetplattformen, Gesprächskreise entstehen in Videoräumen, Kontakte zu Älteren und Einsamen werden über Telefonketten gehalten. Was in der Zeit von Alltagsnormalität als vernachlässigenswert galt, erhält nun zentrale Bedeutung in der Neuorganisation des Miteinanders.
Die Welt konfrontiert uns mit der ihr innewohnenden zerstörerischen Kraft. Zu ihrer Bewältigung steht uns kein „Schuld-und-Sühne-Zusammenhang“ zur Verfügung. Krankheit ist keine Strafe, Buße kein Weg zu ihrer Überwindung. Die Konfrontation erreicht uns in der diesjährigen Passionszeit. An den vierzig Werktagen zwischen Aschermittwoch und Karsamstag setzen wir uns besonders mit der Gegenwart Gottes im Leiden und den Anfechtungen unseres Lebens auseinander und suchen nach Kraft an den Schwachpunkten des Daseins. Normalerweise suchen wir diese Kraft in Überwindungserlebnissen durch Verzicht und Selbstdisziplin. In dieser Passionszeit tritt die Entdeckungsreise zu neuen Formen der Solidarität in beiderlei Gestalt hinzu: Die Solidarität Gottes mit der Welt und unsere Solidarität untereinander.
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Erschienen am 01.04.2020
Aktualisiert am 08.01.2021