Coronakrise: Nüchternheit als Zeichen der Humanität
Beobachtungen in einer veränderten Welt 2 - Michael Hartmann
Man ruft jetzt in der Krise gern den Systemwechsel aus. Gibt es eine „Corona Dämmerung“ (taz) für den Kapitalismus? Michael Hartmann schreibt den zweiten Beitrag der Reihe über „Beobachtungen in einer veränderten Welt“.
Auch in der Krise gilt das Prinzip der Freiheit als Kern unseres Menschenbildes und unserer Vorstellung davon, welche Verantwortung aus dieser Freiheit erwächst: Luther definiert das so: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Beide Thesen über die Freiheit sind der Ruf an uns in die Verantwortung. Der Katholik Saint-Exupéry fasst das in seinem Roman „Nachtflug“ so zusammen: „Meine Kultur, ein Erbe Gottes, hat jeden für alle Menschen und alle Menschen für jeden einzelnen verantwortlich gemacht.“
Die Pandemie rührt zutiefst an die Bedingungen von Humanität. Sie gefährdet Leben. Eine große wirtschaftliche Depression würde ebenfalls viele Leben kosten.
Die ökonomischen Bedingungen lassen uns nicht los: Auch medizinische Versorgung hat mit Bedingungen von Wertschöpfung zu tun. Und nicht der Markt ist für die Engpässe in der medizinischen Versorgung und in der Pflege verantwortlich, sondern die politischen Entscheidungen über die Abrechnung von Leistungen zwischen den staatlichen Versicherungen und den privaten und öffentlich-rechtlichen Trägern sind es. Weder das vollständig privatisierte Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten noch der staatliche NHS (National Health Service) im Vereinigten Königreich scheinen sich in der Krise besser zu bewähren als das deutsche, korporatistisch organisierten System.
Die Pandemie wird in den folgenden Wochen noch mehr Menschenleben fordern und viele Volkswirtschaften werden später in eine Rezession abgleiten. Dennoch ist das nicht das Ende der Geschichte offener Gesellschaften und freier Märkte. Ein temporärer Rückgang der Wirtschaftsleistung lässt sich wieder aufholen, wenn er nicht zu lange andauert. Sobald die Corona-Pandemie vorüber sein wird, werden globale Angebotsketten wieder aufgebaut werden können, sich rasch erweitern und an Stabilität gewinnen. Die Unternehmen, die auf dem Markt bestehen konnten, werden sich erholen und das Wirtschaftswachstum kann zurückkehren. Dennoch wissen wir nicht, wie sich die ökonomische Dynamik entwickeln wird. Verläuft sie zögerlich oder gar stagnierend, wären die aktuellen kreditfinanzierten Rettungsversuche eine Hypothek auf Jahre und Jahrzehnte. In solch einem Szenario könnten sich die sozialen Folgen weltweit zuspitzen.
Unter diesen Bedingungen extremer Unsicherheit verantwortlich und schnell zu reagieren, ist herausfordernd. Regierungen und Zentralbanken haben seit der großen Weltwirtschaftskrise vor 90 Jahren ohne Frage eine Lernkurve durchlaufen. Die Hilfsprogramme der Zentralbanken und Regierungen wurde diesmal sehr schnell auf den Weg gebracht und haben ein erhebliches Volumen. Sie können die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise aber nur dann lindern, wenn der Shutdown nicht zu lange andauert.
Die langfristigen Folgen der Krise werden sich mit der zunehmenden Länge des Ausnahmezustandes verschärfen. Und sie stellen ein ethisches Problem dar: Sowohl die ungleiche Verteilung der Lasten vor allem auf die Schultern der schwachen Mitglieder der Gesellschaft, als auch die Lastenverteilung unter den Staaten werden sich mit der Dauer der Krise vertiefen. Als Zukunftslast wird die öffentliche wie private Verschuldung zunehmen. Trotz der Konflikte um die Eurobonds gibt es aktuell viel Solidarität in der EU: Mit dem ESM und dem erweiterten Anleihekaufprogramm der EZB wird staatliche Kreditaufnahme erleichtert. Es geht jedoch nicht allein um das Retten der staatlichen Handlungsfähigkeit, sondern auch um Strukturen, die Europa mittelfristig wettbewerbsfähig halten können. Neben weiterem Geld zur Rettung muss es um tragfähige Strukturen in Europas Volkswirtschaften gehen. Das mag in der derzeitigen Situation hart und kalt klingen, aber eine nüchterne Betrachtung der Risiken der Optionen, die Regierungen momentan haben, folgt einer Verantwortungsethik.
Noch komplizierter sind Entscheidungen, wie gesellschafts- und ordnungspolitisch auf die Epidemie reagiert werden soll. Dabei geht es nicht primär um Fortbestand oder Ende des Shutdown und aller damit verbundenen Einschränkungen von Grund- und Bürgerrechten. Die Verzögerung oder stärkere Eindämmung des Infektionsgeschehens (Tests, Information und Isolierung) haben nicht nur unterschiedliche epidemiologische Effekte, sondern schlagen sich auch in unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen nieder. Diese fallen je nach Dauer der Maßnahmen sehr verschieden aus. Und sie werden gesellschaftliche Gruppen sehr unterschiedlich belasten.
Meine These ist, dass wir im Moment eine Sternstunde des Staates und der korporatistischen Marktwirtschaft gegenwärtigen. Auch die Bereitschaft von Wissenschaft und politischen Entscheidern, Argumente und Abwägungen öffentlich zu machen und zu erklären, bewerte ich uneingeschränkt positiv.
Dazu morgen mehr.
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Erschienen am 02.04.2020
Aktualisiert am 08.01.2021