Beobachtungen in einer veränderten Welt 4

Die Corona-Pandemie – eine Chance für die Pflege?

Beobachtungen in einer veränderten Welt 4 - Simone Ehm

© EAzB

Applaus ist schön - aber was wird sich für die Pflegekräfte in Deutschland nach der Krise ändern? Simone Ehm fordert nachhaltige Aufmerksamkeit für die vernachlässigte Branche im vierten Beitrag der Reihe „Betrachtungen in einer veränderten Welt“. Pflegende sollten ihren politischen Einfluss ausbauen.

Die Zahl der Corona-Infizierten nimmt in Deutschland weiter zu, wenn auch nicht mehr ganz so schnell. Es wird auch in den nächsten Tagen und Wochen darum gehen, die Beatmungskapazitäten auf den Intensivstationen auszubauen. Gegebenenfalls müssen zusätzlich Kapazitäten geschaffen werden, beispielsweise auf Normalstationen oder in neuen Einrichtungen wie der geplanten Covid-19-Klinik in Berlin. Egal jedoch, wo wir PatientInnen unterbringen – sie müssen auch versorgt werden. Dafür braucht es neben ausreichend Beatmungsgeräten und Schutzmaterialien vor allem qualifizierte Pflegekräfte.

Hier liegt eines der Hauptprobleme. Schon lange vor der Corona-Pandemie mussten Intensivstationen, aber auch andere Bereiche in Kliniken, Betten sperren, weil es an Gesundheitspersonal, insbesondere an Pflegekräften, mangelte. Nun spitzt sich die Situation zu. Mehr PatientInnen benötigen eine Intensivtherapie. Dafür braucht es vergleichsweise viel Personal, das besonders geschult sein muss.

17.000 unbesetzte Stellen in der Pflege gab es laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft im Dezember letzten Jahres. Der Arbeitsmarkt für Pflegekräfte in Deutschland ist nahezu leer. Es wird händeringend im Ausland geworben. Die Ursachen für den Fachkräftemangel mitsamt der unzureichenden Zahl an Auszubildenden sind hinreichend bekannt. Der Pflegealltag ist neben körperlichen durch eine Vielzahl psychischer Belastungen geprägt. Zu den Stressfaktoren gehören ständiger Zeitdruck, mangelnde Anerkennung, geringe Handlungsspielräume und die individuelle Spannung zwischen eigenen Berufsidealen und den Rahmenbedingungen vor Ort. Hinzu kommen mäßige Bezahlung und vergleichsweise familienungünstige Arbeitszeiten.

Trotz einer Fülle an Pflegereformen ist die Situation anhaltend schwierig. BürgerInnen interessieren sich in gesunden und pflegefreien Tagen selten für das Pflegesystem: Größere Proteste hat es trotz zum Teil notstandsähnlicher Situationen nicht gegeben. Die politische Macht von Pflegenden und ihren Interessenvertretungen selbst ist nach wie vor gering.

Um sich auf eine steigende Anzahl von Corona-Infizierten vorzubereiten und Personalkapazitäten zu sichern, greifen Kliniken und Politik zu unterschiedlichen Maßnahmen. Nicht dringliche Operationen und Behandlungen werden verschoben. Personal aus anderen Abteilungen wird im Schnellverfahren intensivmedizinisch fortgebildet. Es wird versucht, Teilzeitkräfte aufzustocken und Pflegefachkräfte zurückzugewinnen, die zurzeit nicht in diesem Beruf arbeiten. Auch von monetären Anreizen wie einer Gefahrenzulage ist die Rede. Noch ist unklar, ob die ad-hoc-Maßnahmen ausreichen. Möglicherweise wird es vor allem dank des immensen Einsatzes von Pflegekräften und KlinikmanagerInnen gelingen, die Versorgung von Corona-PatientInnen zu sichern. Dass das außerordentliche Engagement von Pflegenden gesehen wird, zeigt der Applaus von den Balkonen, mit dem viele Menschen den Mitarbeitenden in Kliniken danken. Diese Wertschätzung ist wichtig, was aber wird sich für die Pflege in der Zeit nach der Krise ändern?

Die Corona-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die Situation in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Und sie bietet eine Chance dafür, dass die Pflege gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Pflegekräfte, ihre Organisationen sowie die Gesellschaft als Ganze tun gut daran, diese Chance zu nutzen, damit Pflege die politische Aufmerksamkeit bekommt, die sie braucht.

Schon jetzt sind Pflegende und ihre Interessensvertretungen gefragt, ihren politischen Einfluss auszubauen und damit Weichen für die Zeit nach der Corona-Krise zu stellen. Beispiele, die in die richtige Richtung weisen, gibt es zunehmend. In vielen Kliniken haben Mitarbeitende, maßgeblich Pflegekräfte, Initiativen gestartet, sich Gehör zu verschaffen. In Appellen und Petitionen fordern sie mehr Personal und eine bessere Bezahlung. „Just in time“-Lieferketten für Verbrauchsmaterialien werden kritisiert, die Marktlogik des Gesundheitswesen in Frage gestellt. Auch konkrete Mitbestimmung wird eingefordert. An verschiedenen Uniklinken stellen Mitarbeitende krankenhausinterne Hierarchien infrage und setzen sich dafür ein, Beschäftigte gleichberechtigt in die Krisenstäbe der Krankenhäuser einzubeziehen. 

Lässt sich dieser Aufbruch verstetigen? Mittel- und langfristig darf sich die Diskussion über die Zukunft der Pflege nicht ausschließlich auf einzelne arbeitspolitische Forderungen wie höhere Löhne oder die Aufrechterhaltung von Personaluntergrenzen konzentrieren. Es ist dringend notwendig, sich mit Strategien zur Interessenorganisation und -durchsetzung in der Pflege zu beschäftigen. Nach wie vor ist der Organisationsgrad unter Pflegenden verhältnismäßig gering. Nur wenige sind Mitglied einer Gewerkschaft. Hinzu kommt, dass der Pflegesektor stark zersplittert ist. Es gibt verschiedene Arbeitsrechts- und Tarifsysteme, mehrere Arbeit- und Dienstgeberverbände sowie unterschiedliche Interessenvertretungsorganisationen.  

Eine Bündelung von Interessen ist im Pflegesektor eine bleibende Herausforderung. Das zerklüftete System von Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen hemmt die Herausbildung eines gemeinsamen berufspolitischen Selbstverständnisses, wie es in anderen Branchen zu finden ist.  

Zu Recht sieht ein Großteil der Pflegekräfte den Staat in der Pflicht, für adäquate Arbeitsbedingungen zu sorgen. Ohne eine bessere Selbstorganisation der Pflegenden – und eine Bündelung der Interessen von Arbeitgeberverbänden – wird sich die Situation jedoch nicht grundlegend ändern.

In der Gesellschaft herrscht gerade jetzt in der Corona-Krise eine große Offenheit gegenüber den Forderungen von Pflegenden. Vielen Menschen ist klar, was Mitarbeitende in Gesundheitseinrichtungen täglich leisten. Applaus ist nur ein Anfang. Ob er die Unterstützung der Pflegenden in ihren Forderungen nach einer Aufwertung des Berufs zur Folge hat, wird sich zeigen.

Dieser Text steht unter CC-0 und darf frei geteilt und modifiziert werden.

Simone Ehm

Studienleiterin für Ethik in den Naturwissenschaften

Telefon (030) 203 55 - 502

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