Beobachtungen in einer veränderten Welt 5

Vom Davonjagen der Ängste

Beobachtungen in einer veränderten Welt 5 – Christian Staffa

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© EazB

Ein Gedicht geht Christian Staffa in diesen Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Die jüdische Schriftstellerin Mascha Kaléko hat es im Exil geschrieben. „Die Bilder sprechen uns verblüffend treffend an“, schreibt Staffa im fünften Beitrag der Reihe über „Beobachtungen in einer veränderten Welt“.

Aus urheberrechtlichen Gründen dürfen wir das Gedicht „Rezept“ nicht zeigen. Es lohnt sich aber, danach zu forschen, zum Beispiel hier: maschakaleko.com/gedichte/23-rezept.

„Rezept“ hält alle Motive bereit, die mich auch heute beschäftigen, auch wenn ich weiß, dass die damalige Situation der Autorin mit der aktuellen meinigen nicht zu vergleichen ist. Aber ist nicht gerade das große Literatur, die andere auch in völlig anderen Lebenslagen erreicht? Mascha Kaléko fordert uns auf, unsere Ängste fortzujagen, wie auch die Ängste vor den Ängsten. Sie dürfen uns erreichen, ja, wir können sie spüren, aber dann müssen wir sie fortjagen, uns ihnen nicht ergeben.

Es wird alles reichen, so heißt es im Gedicht, Brot im Kasten und der Anzug im Schrank. Für mich in meiner privilegierten Lage reichen auch noch Wein und Käse. Das lyrische Ich im Gedicht hält den Koffer bereit und sagt dem Leid, dass es kommen kann - und wie das Glück nicht ewig bleiben wird. Der Alltag will gelebt sein, die Stube gefegt, der Nachbar gegrüßt. In diesem Alltag lasst uns unsere Wunden wachhalten, nicht die selbstmitleidigen, sondern den Schmerz an der Gewalt in der Welt, von der wir ein Teil sind. Wunden wachhalten unter dem „Dach im Einstweilen“, also darauf hoffend, dass die Wunden geheilt, die Tränen abgewischt werden, alle. Und dann der Schlussakkord: „Zerreiße deine Pläne und halte dich an Wunder“.

„Rezept“ geht mir, der ich immer gegen Rezepte polemisiere beim Kochen, aber noch mehr bei den Fragen nach dem Umgang mit so unterschiedlichen Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Organisationsentwicklung oder Führungsfragen, nicht aus dem Kopf. Es ist ein Rezept, das Widersprüchliches annimmt und lebbar macht.

Mascha Kaléko (1918-1975) schrieb es im Exil in New York, nachdem sie 1938 als jüdische und verbotene Schriftstellerin knapp aus Berlin entkommen war. Die Bilder sprechen uns verblüffend treffend an, uns, denen es ungleich besser ergeht als ihr - und sie dürfen uns treffen, wenn wir uns ihr nicht gleichmachen. Die Corona-Krise, wie Joschka Fischer in der taz sagte, ist eine Menschheitskrise, kein Meister aus Deutschland, dem Mascha Kaléko ausgeliefert war. Und doch spricht ihr Appell, ihr Rezept zu uns. „Jage die Ängste fort“ statt sie anderen zu machen, statt wieder und wieder die „Fremden“ zu markieren als die Schuldigen nun an dem Virus. Ja, der Virus kann uns Angst machen in vielerlei Weise, physisch, physisch, in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, aber eben auch politisch. Wer wird seine Suppe darauf kochen oder kocht sie schon? Werden wir aus dem nationalen und regionalen Einigelungsprozess der Abschottung eine offenere Gesellschaft werden können, als wir es waren, werden wir Verantwortung für die Schwächeren, die innergesellschaftlich so beschworen wird, auch weltweit übernehmen können? Darüber lohnte es, jetzt nachzudenken und jetzt zu bedenken, wie es gehen könnte. Wäre das nicht wunder-voll?! Der Wunderglaube kommt nicht aus, ohne dass wir die Ängste aktiv fortjagen, statt in ihnen aufzugehen und sie dann den „Fremden“ als Gewalt begegnen lassen.

An dieses Wunder halte ich mich nicht erst seit der Corona-Krise.

Dieser Text steht unter CC-0 und darf frei geteilt und modifiziert werden.

Dr. Christian Staffa

Studienleiter für Demokratische Kultur und Kirche

Telefon (030) 203 55 - 411

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