Beobachtungen in einer veränderten Welt 6

„Was passiert mit der kollektiven Dimension unserer Religion?“

Beobachtungen in einer veränderten Welt 6 - Sarah Albrecht

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© EazB

Wie erleben Muslim*innen in Deutschland die aktuelle Situation? Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen sie? Im sechsten Teil der Reihe „Beobachtungen in einer veränderten Welt“ lässt Sarah Albrecht muslimische Stimmen zu Wort kommen, die sich Gedanken machen über existentielle und praktische Fragen – und über die Demaskierung des Rechtspopulismus.

Gläubige sind dieser Tage in vielerlei Hinsicht herausgefordert. Existenzielle Fragen über Leben, Tod und Menschenwürde sind allgegenwärtig. Gleichzeitig kann religiöse Praxis nicht wie üblich gelebt werden. Oster- und Pessachgottesdienste werden in den digitalen Raum verlegt. Feiern im Kreise der Familie fallen vielerorts aus. Was bedeutet die aktuelle Situation für Muslim*innen? Welche Fragen und Probleme bewegen sie? Wie reagieren sie auf die Einschnitte, die das alltägliche Leben derzeit prägen?

Die gemeinschaftlichen Gebete in Moscheen sind bis auf weiteres ausgesetzt. Freitagspredigten werden online übertragen. Muslimische Vereine und Verbände organisieren Nachbarschaftshilfe, rufen pensionierte muslimische Ärzt*innen und Pflegepersonal dazu auf, bei der Bekämpfung der Pandemie zu helfen. Die muslimische Telefonseelsorge nimmt sich der Sorgen der Menschen in dieser besonderen Zeit an.

Kurzum: Muslim*innen begegnen den gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir alle derzeit stehen, ganz ähnlich wie Vertreter*innen anderer Religionsgemeinschaften. Gleichzeitig sind sie in besonderer Weise von der Pandemie und deren Konsequenzen betroffen.

„Wie kann Religiosität funktionieren in einer Religion, die sehr stark darauf (…) bedacht ist, Gemeinschaft herzustellen? Welche Auswirkungen wird diese aktuelle Krise auch auf die (...) Zukunft der muslimischen Religiosität haben?“ Engin Karahan, Politikberater und Gründungsmitglied der Alhambra-Gesellschaft, bringt auf den Punkt, was viele Muslim*innen derzeit bewegt. Denn am 23. April beginnt der Ramadan – ein Monat, der für viele Gläubige besondere spirituelle und gemeinschaftliche Erfahrungen mit sich bringt: mit dem allabendlichen Gebet in der Moschee, dem Fastenbrechen in geselliger Runde, den Momenten der inneren Einkehr, der besonderen Aufmerksamkeit für Bedürftige. In diesem Jahr wird vieles anders sein.

Wird eine spirituelle Lücke klaffen, weil die Moscheen geschlossen sind? Werden live gestreamte Gebete und Koranlesungen diese füllen können? Wie werden allein lebende Muslim*innen den Monat erleben? Beim Fastenbrechen via Videokonferenz? Wie können Gemeinden die nun fehlenden Spenden, die in den Moscheen üblicherweise freitags und während des Ramadans täglich gesammelt werden, ausgleichen? Wie können die Miete, der Imam, das soziale Engagement zukünftig finanziert werden? Einige Gemeinden, so berichtete mir Iman Andrea Reimann, Vorsitzende des Deutschen Muslimischen Zentrums, sehen sich bereits jetzt existenziell bedroht.

„Was passiert mit der kollektiven Dimension unserer Religion?“ fragt auch Murat Kayman, Experte für islamisches Bestattungswesen. Er hat dabei noch eine andere existenzielle Dimension vor Augen – den Umgang mit den Toten: „Wird es auf den kommunalen Friedhöfen ausreichende Grabflächen für muslimische Bestattungen geben? Werden überhaupt rituelle Totenwaschungen und sarglose Bestattungen noch möglich sein oder sind die Körper der Verstorbenen auch über den Tod hinaus weiter infektiös? Kann es in einem solchen Fall überhaupt noch Erdbestattungen geben? Oder wird seuchenpolizeilich zwingend eine Feuerbestattung vorgenommen werden müssen? Was bedeutet das alles aus theologischer Sicht? Sind die Gemeindemitglieder auf diese möglichen Entwicklungen vorbereitet?“ Und schließlich: Können verstorbene Muslim*innen, die dies wünschen, weiterhin zur Bestattung in ihr Herkunftsland überführt werden? Derzeit sind es unter Türkeistämmigen, so Kayman, immerhin rund 90 Prozent.

Fragen über Fragen. Fragen, die sich einreihen in die Unwägbarkeiten dieser Tage. Fragen, die uns als Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen einmal mehr verdeutlichen, mit welch existenziellen Herausforderungen wir in Deutschland und weltweit nicht nur mit Blick auf Wirtschaft und Gesundheitssystem konfrontiert sind, sondern auch auf zivilgesellschaftlicher, theologischer und ganz persönlicher Ebene.

Und zugleich besteht Hoffnung. Hoffnung, dass wir etwas aus dieser Krise lernen können, nicht nur für die wirtschafts- und gesundheitspolitische Zukunft, sondern für unser Zusammenleben in einer Gesellschaft, in der rechte Stimmen in den vergangenen Jahren stark an Einfluss gewonnen haben. Murat Kayman drückt diesen Hoffnungsschimmer so aus:

„Dieses Virus ist in einer gewissen Hinsicht sehr egalitär. Es unterscheidet nicht zwischen Ethnien, Herkünften, Religionen oder sonst etwas, was wir sehr häufig als Differenzierungsmerkmal, als Ausgrenzungsmerkmal in unseren gesellschaftlichen Debatten heranziehen, wenn es um unser Zusammenleben geht. Es betrifft uns alle gleichermaßen. (…) Aus der (rechtspopulistischen) Ecke kommt momentan nicht sehr viel, was zur Bewältigung oder zur Problemlösung (…), zur Solidarität aufrufen würde. Und das entlarvt im Grunde auch die Wirksamkeit solcher politischen Strömungen, wenn es tatsächlich darum geht, einander beizustehen in Zeiten der Not und der Gefahr.“ 

Dieser Text steht unter CC-0 und darf frei geteilt und modifiziert werden.

Dr. Sarah Albrecht

Studienleiterin Theologie und interreligiöser Dialog

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