Seit dem grundsätzlichen Wandel der politischen Geographie Europas in den Jahren 1989/90, bei dem Polen und Tschechien ihre nationale Souveränität und Deutschland die staatliche Einheit erlangten, fällt überall auch ein neues Licht auf die Geschichte. Die Frage nach der jeweiligen Identität - wer sind wir, woher kommen wir, wohin wollen wir - muss beantwortet werden, um Orientierung für den Weg in die Zukunft zu gewinnen. Denn alle freiheitlichen Demokratien und modernen Rechtsstaaten sind zugleich Erinnerungsgemeinschaften.
In den Mittelpunkt des Interesses rückte erneut der Zweite Weltkrieg, seine Ursachen und Folgen. Dabei hat sich gezeigt, dass das kollektive Bewusstsein in unseren Ländern nach wie vor stark von den nationalen Leidenserfahrungen dominiert wird. (Der Generationenwechsel ändert an diesem Befund nichts, im Gegenteil - gerade in der jungen Generation gibt es die Tendenz zur Geschichtsklitterung und Renationalisierung.) Die Initiativen, Debatten und Prozesse der letzten Jahrzehnte über Schuld und Versöhnung, Annäherung und Verständigung schienen diese nationale Engführung des Geschichtsbewusstseins hinter sich zu lassen und Raum zu bieten für die Entwicklung einer "europäischen", postnationalen Geschichtskultur, zumindest aber für die gegenseitige Vermittlung der verschiedenen nationalen Perspektiven und die Entwicklung einer gemeinsamen "politischen Kultur" - eine unverzichtbare Komponente im europäischen Einigungsprozess. Heute müssen wir uns fragen, ob die damit verbundenen Schwierigkeiten nicht unterschätzt wurden. Selbst die zwischenstaatlichen Beziehungen sind von der entstandenen Vertrauenskrise berührt.
Ein Beispiel für diesen Befund ist die Debatte um das "Zentrum gegen Vertreibungen". Um Sinn und Inhalt dieses Projekts sowie die Formen und Wege zu seiner Realisierung wurden über viele Monate kontroverse, teilweise auch hitzige Diskussionen geführt. Darin flossen neben unterschiedlichen historischen Sichtweisen und Bewertungen auch völlig unsachgemäße politische Argumente ein - etwa die Verknüpfung von "Vertreibungsschuld" mit den Verhandlungen über die EU-Erweiterung oder Entschädigungsforderungen.
Statt zu einer gemeinsamen Bewertung der Geschichte zu kommen, droht uns die Geschichte zu spalten. In dieser Lage stellt sich die Frage nach Alternativen. Wie müssen wir Geschichte erinnern und vermitteln, damit sie Wege in die Zukunft öffnet statt zu verbauen?
Es ist an der Zeit, über diese Fragen einen substantiellen Dialog zu führen. Dazu möchten wir einladen.
Ludwig Mehlhorn, Evangelische Akademie zu Berlin
Basil Kerski, Deutsch-Polnische Gesellschaft (Bundesverband)
Freitag, 4. Februar 2005
16.00 Uhr Begrüßung und Einführung
Basil Kerski, Ludwig Mehlhorn
16.30 Uhr Geschichtspolitische Debatten nach 1989
in Deutschland, Polen, Tschechien
- eine Bestandsaufnahme:
Länderstudie Polen
Dr. Krzysztof Ruchniewicz, Willy-Brandt-Zentrum der Universität Breslau
Kommentar: Dr. Burkhard Olschowsky, Berlin
18.00 Uhr Abendessen
19.30 Uhr Länderstudie Tschechien
Dr. Eva Hahn, Oldenburg
Kommentar: Dr. Jaroslav Sonka, Europäische Akademie Berlin
Ende gegen 21.30 Uhr
Samstag, 5. Februar 2005ł
8.30 Uhr Frühstück (für Übernachtungsgäste)
9.30 Uhr Länderstudie Deutschland
Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin
Kommentar: Jan Ross, DIE ZEIT
11.00 Uhr Kaffeepause
11.30 Uhr Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Wirkungen
Kritische Bewertung im Podium:
Prof. Dr. Zdzisław Krasnodębski, Universität Bremen/Warschau
Prof. Dr. Jan M. Piskorski, Universität Stettin
Dr. Tomás Kafka, Deutsch-Tschechischer Zukunftsfonds, Prag
Prof. Dr. Karl Schlägel, Viadrina Frankfurt/Oder
13.00 Uhr Mittagessen
14.30 Uhr Renationalisierung oder Europäisierung
Welche Chance hat ein europäisches Geschichtsbewusstsein?
Dr. Piotr Buras, Breslau
Dr. Helga Hirsch, freie Publizistin, Berlin
Prof. Dr. Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas der Universität Leipzig
Prof. Dr. Hubert Orłowski, Adam-Mickiewicz-Universität Posen
16.00 Uhr Ende der Tagung