In Russland und Deutschland haben in den vergangenen Jahren merkliche Veränderungen in den Mechanismen der öffentlichen Meinungsbildung, der politischen Artikulation und des zivilgesellschaftlichen Engagements stattgefunden. Ausgelöst durch regionale oder lokale Konflikte und verstärkt durch die neuen Informations-, Diskurs- und Mobilisierungsmöglichkeiten des Internets, treten starke Bürgerbewegungen auf, die direkten Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungsprozesse einfordern und durchsetzen. Oftmals sind sie mit Fragen der Ökologie und Stadtentwicklung verbunden, zudem aber auch mit Grundsatzfragen der Demokratie und Regierungsführung. Pauschalbegriffe wie „Wutbürger“, mit denen die Medien das Phänomen beschrieben, verengten es dabei auf den bloßen emotionalen Protest.
Die markantesten Bürgerbewegungen bildeten sich mit den Auseinandersetzungen um jeweils große Infrastrukturprojekte – den Bahnhofsumbau „Stuttgart 21“ in Baden-Württemberg und den Bau einer Maut-Autobahn durch den Chimki-Wald am Stadtrand von Moskau. Beide Fälle wirkten weit über die betroffenen Kommunen hinaus auf das politische Bewusstsein im jeweiligen Land. In Russland entstanden außerdem unter anderem die Bewegung gegen den Gasprom-Tower im historischen Zentrum St. Petersburgs und die Bewegung der „Blauen Eimer“ gegen Verkehrsprivilegien regierungsnaher Spitzenpolitiker und Prominenter – Manifestationen nicht nur gegen die Negierung von Bürgerinteressen im städtischen Kontext, sondern auch gegen Machtmissbrauch. In Deutschland hat beispielsweise allein Berlin in nur drei Jahren Bürgerbewegungen aufgrund von Streitfragen wie der Bebauung des Spreeufers „Mediaspree“, der Einführung von Ethik- bzw. Religionsunterricht in Schulen und der Lärmbelastung durch den Flughafen Schönefeld erlebt.
Zugleich entstanden spezifische Formen von politisch relevanter Bürgerselbstorganisation im Internet. Dabei geht es nicht nur um die Aufdeckung brisanter oder geheimer Informationen über diverse Foren für „Whistleblower“ wie Wikileaks und dessen deutsche Abspaltung openleaks. Es geht auch um Plattformen zur schnellen Mobilisierung großer Bevölkerungsgruppen für eine öffentliche Positionierung, etwa das deutsche Portal Campact.de! für Demonstrationen und Unterschriftensammlungen oder russische Umweltforen wie Ecowiki.ru, über die sich 2010 angesichts der horrenden Waldbrände Freiwillige zum Feuerlöschen zusammenfanden. Und es geht um investigative Rechercheure – solche wie den russischen Juristen und Blogger Aleksej Navalnyj, dessen Anti-Korruptionsportal „Rospil“ ihn zum überaus populären, Robin-Hood-artigen Helden der russischen Internet-Community machte, und solche wie die binnen Tagen aufgetauchten Wiki-Gemeinschaften Guttenplag und Vroniplag, die komplexe Plagiat-Überprüfungen professionell organisierten. Sie alle erwiesen sich als Katalysator und Kristallisationspunkt, über den Unzufriedene sich schnell und unabhängig verbinden und engagieren – und dabei den Regierenden offensichtlich ihre Grenzen aufzeigen konnten.
Die neuen Formen der Einmischung bewirkten bereits spürbare, zum Teil einschneidende politische Folgen: So trug die Bewegung gegen Stuttgart 21 in Baden-Württemberg erheblich zum ersten Machtverlust der CDU nach über 50 Jahren und zur Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten in Deutschland bei. Durch die Plagiat-Rechercheure verloren mehrere Politiker, darunter der prominenteste deutsche Minister, Doktortitel und Ämter. In Russland führte „Rospil“ mehrfach zur Rücknahme korruptionsverdächtiger staatlicher Ausschreibungen, verhinderte die Bewegung gegen den Gasprom-Tower dessen Bau im Petersburger Zentrum und erreichten die Chimki-Waldschützer 2010 einen von Präsident Medvedev persönlich verhängten Baustopp.
Doch war es signifikant, dass die Erfolge der Chimki-Waldschützer ebenso vorübergehend blieben wie die der Gegner des Untergrundbahnhofs Stuttgart 21 – sie scheiterten an bestehenden Rechtsregularien und Entscheidungsstrukturen. Das Informationsportal www.election2012.ru ru hat eine riesige Materialsammlung zu Wirtschaftsinteressen und –verbindungen der führenden russischen Politiker offengelegt, mit dem Hinweis auf deren Korruptionspotential – bisher hat dies keinerlei relevante Wirkung in der Gesellschaft gezeigt. Nicht zuletzt rücken die bevorstehenden Dumawahlen im Dezember und die zum Teil sehr durchsichtigen Manöver zur Durchsetzung der erwünschten Wahlergebnisse in den Blick sowie der Widerspruch, in dem sie gegenüber den wachsenden Initiativen gegen die Volksferne, Selbstbezüglichkeit und Korruption der Eliten stehen.
Dies bekräftigt nur die weiterreichenden Fragen, die sich aus den neuen bürgerschaftlichen Initiativen auf den Straßen und im Internet ergeben und die von den 16. Deutsch-Russischen Herbstgesprächen von Vertretern markanter neuer Initiativen und einflussreicher Blogger, Soziologen und Politiker aus Russland und Deutschland diskutiert werden sollen.
Stefan Melle
Deutsch-Russischer Austausch
Dr. Rüdiger Sachau
Evangelische Akademie zu Berlin
Freitag, den 4. November 2011
14.30 Uhr Begrüßung in der Französischen Friedrichstadtkirche
Dr. Rüdiger Sachau, Evangelische Akademie zu Berlin
Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch
15.00 Uhr Chimki und Stuttgart 21: neue Bürgerbewegungen für Städte und Umwelt
Inwieweit haben Bürgerbewegungen die Legitimität, formal bereits absolvierte Bürgerbeteiligungsver-fahren neu einzufordern?
Hartmut Bäumer, Ministerialdirektor, Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg
Tobias Raff, Betreuer der Internet-Öffentlichkeitsarbeit für „Stuttgart 21“
Jevgenia Chirikova, Leiterin der Chimki-Wald-Bewegung
Alexander Karpov, Umwelt-NGO Ecom, St. Petersburg
Moderation: Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch
16.30 Uhr Kaffeepause
17.00 Uhr Rospil, Ecowiki, Guttenplag:
Internetinitiativen als Treibkräfte der modernen Bürgergesellschaft
Wie hat sich die bürgerschaftliche Öffentlichkeit durch das Internet in den vergangenen Jahren verän-dert? Welche Formen und Mechanismen sind in Russland und Deutschland entstanden?
Wieweit tragen investigative Modelle von kritischer Informationsverbreitung im Internet zur Transpa-renz bei, inwieweit sind sie Teil der bürgerschaftlichen Kontrolle, und wo liegen ihre Grenzen und Risi-ken?
Wie stark sind die „virtuelle Zivilgesellschaft“ und die traditionelle verbunden?
Martin Heidingsfelder, Gründer von „Vroniplag“ Wiki
Markus Beckedahl, Blogger, Analyst, www.netzpolitik.org /beckedahl.org, Mitorganisator Konferenz re:publica
Konstantin Terekhov Jurist des Anti-Korruptionsportals „Rospil“
Oleg Kaschin, Reporter Innenpolitik Zeitung „Kommersant“
Moderation: Sergej Sumlenny, Korrespondent Wirtschaftszeitschrift „Expert“
18.45 Uhr
Dokumentarfilm-Ausschnitte zur Chimki-Waldbewegung und zu Stuttgart 21
u.a. "Stuttgart 21 - Denk mal!" (2010, 75‘, Regie: Lisa Sperling / Florian Kläger, Produzent Peter Rommel ("Halbe Treppe"), Youtube-Beiträge von Chimki
19.30 Uhr bis 22.00 Uhr
Abendessen im Haus der EKD, Charlottenstraße 53 (gegenüber der Kirche)
Dinner-Speech:
Barbara von Ow-Freytag
Vorstandsmitglied der Stiftung Deutsch-Russischer Austausch
Samstag, den 5. November 2011
9.45 Uhr Begrüßung in der Französischen Friedrichstadtkirche
Aufteilung der Arbeitsforen
10.00 Uhr Runde Tische / Arbeitsforen A - C
Forum A: Blogger als investigative Kraft
Welche Rolle spielt kritische Information in der Blogosphäre? Wer sind die Aktivisten, wer die User? Wie wichtig sind Individuen und Communities?
Zu welchen Themen und wie entstehen investigative Projekte und Communities?
Welche Motivationen stehen dahinter?
Verstehen sich investigative Blogger als Zivilgesellschaft?
Haben traditionelle politische Kräfte eigene Muster entwickelt, nehmen sie Einfluss?
Teilnehmer u. a. Konstantin Terekhov „Rospil“;
Martin Heidingsfelder, Gründer „VroniPlag“
Christian Spahr, BITKOM,Pressesprecher
(Hrsg. Analyse zu Internetverhalten)
Moderation: Angelina Davydova (DRA(RNEI)
Forum B: Chancen und Grenzen der Wirkung der neuen Initiativen auf andere gesellschaftliche Gruppen
Wie verhalten sich neue Bürgerbewegungen und traditionelle Formen des Bürgerengagements und der politischen Meinungsbildung zueinander?
Welche Impulse kann die Zivilgesellschaft in beiden Ländern aus den neuen Bürgerbewegungen
erwarten?
Kann aus den oft informellen, kurzzeitigen Aktivitäten der Protestbewegungen eine neue, stetige Eh-renamtlichkeit erwachsen, und wird sie von den bisherigen Organisationen aufgenommen?
Wie gehen die aktuellen politischen Eliten mit ihnen um?
Teilnehmer u.a.: Prof. Hans Vorländer, Politikwissenschaftler, TU Dresden
Dmitrij Kokorin, Direktor für Entwicklung Memorial Moskau
Jelena Belokurova, Politologin, Europäische Universität St. Peters-burg
Dmitrij Vorobjev, Soziologe, St. Petersburg
Moderation: Jens Siegert, Heinrich-Böll-Stiftung Moskau
Forum C: Bürgerschaftliche Selbstorganisation durch neue Medien
Entstehen im Internet neue Formen der Selbstorganisation? Welche, wo und wie? Ersetzen sie als autonome Strukturen die Handlungsmängel des Staates?
Wie übertragbar sind die Beispiele der Plagiatjäger in Deutschland und Brandbekämpfer in Russland auf andere gesellschaftliche Felder?
Interferenzen und Barrieren zwischen Internet-Öffentlichkeit und Gesamtbevölkerung: Welche Bevöl-kerungsgruppen sind involviert, welche nicht? Wie durchlässig ist das politisch engagierte Internet?
Überwindung der Politikmüdigkeit durch Internet-Aktivität?
Teilnehmer u.a.: Tatjana Kargina, EcoWiki
Marina Litvinovisch, Best Today
Günter Metzges, Cam-pact.de
Moderation:. Nick Reimer, Chefredakteur des Online –Magazins „Klimaretter.info“
11.30 Uhr Kaffeepause
12.00 Uhr Stimme erheben, Stimme abgeben
Herausforderungen durch die neuen Bürgerbewegungen an die repräsentative Demokratie
Stellen situativ und kampagnenartig entwickelte Protestbewegungen mit ihrer öffentlichen Wirkung die Wahl- und Rechtsprinzipien der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie infrage?
Benötigt die Demokratie neue Beteiligungs- und Moderationsformen, die auf die veränderten, vom Internet forcierten Meinungsbildungsprozesse reagieren und den gesellschaftlichen Konsens wieder herstellen? Wie könnten diese aussehen?
Können informelle Bürgerbewegungen die politischen Kräfteverhältnisse ändern, zum Beispiel bei den bevorstehenden Wahlen in Russland?
Sind die Protestbewegungen strukturell in der Lage, über das Thema des konkreten Konflikts hinaus- gehende gesellschaftliche Konzepte zu entwickeln? Sind durch sie nachhaltige Veränderungen der politischen Kräfteverhältnisse, zum Beispiel bei den bevorstehenden Wahlen in Russland, und der Parteien-Landschaft zu erwarten?
Prof. Dr. Hans Vorländer, Politikwissenschaftler, TU Dresden
Oliver Wiedmann, „Mehr Demokratie e.V.“
Marina Litvinovich, Politologin, Bloggerin, Chefredakteurin „Best Today“
Alexander Karpov, Leiter Ecom, St. Petersburg
Moderation: Christian Esch, Russland-Korrespondent der Berliner Zeitung
13.30 Uhr Schlusswort und Verabschiedung
Anschließend Mittagsimbiss