Nach den Duma-Wahlen 2011 hat in Russland eine Serie großer Protestdemonstrationen das seit dem Jahr 2000 unter Vladimir Putin geschaffene politische System erstmals grundsätzlich in Frage gestellt. Hunderttausende Menschen forderten nicht nur ehrliche Wahlen, Pressefreiheit und die Entlassung politischer Gefangener, sondern auch eine Überwindung der von Präsident und Regierungspartei Edinaja Rossija weitgehend monopolisierten sowie von Korruption belasteten Entscheidungs- und Verteilungsstrukturen. Doch die zivilgesellschaftlich getragene Protestbewegung stieß bald an spürbare Grenzen: Weder war sie in der Lage, größere Unterstützung in den Regionen zu mobilisieren, noch konnte sie demokratisch saubere Wahlen erreichen oder zu der auf Putin fixierten staatlichen Kampagne starke personelle und programmatische Alternativen bieten. Erörtert werden sollen auf den 17. Deutsch-Russischen Herbstgesprächen von Vertretern markanter Bürgerinitiativen, von Analysten und Politikern aus Russland und Deutschland folgende Fragen:
Haben die Bürgerinitiativen und der Pluralismus noch Chancen, in der dritten Amtszeit Vladimir Putins mehr Bedeutung zu erlangen?
Wie können zivilgesellschaftliche Kräfte in der Bevölkerung Unterstützung gewinnen? Welche Modelle haben die deutsche und die russische Gesellschaft dazu entwickelt?
Welchen Anspruch auf Wahrnehmung, Schutz und Verwirklichung hat der Protest einer Minderheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft? Woher bezieht oder gewinnt er seine Legitimität?
Wie eigenständig sind die Zivilgesellschaft und die Protestbewegung in Russland? Welche Aufgaben und Grenzen hat die internationale Unterstützung von bürgerschaftlichen Entwicklungen in anderen Ländern?
Wie weit reichen die Schutzrechte eines Staates gegenüber öffentlich propagierten Forderungen nach Veränderung? Welche Rolle spielt die Verteidigung universeller Werte wie der Menschenrechte und diesbezüglicher internationaler Vereinbarungen?
Wie realistisch ist die Trennung von zivilgesellschaftlicher und politischer Arbeit? Was sind die aktuellen Katalysatoren der Demokratisierung und Modernisierung in Deutschland und Russland, und wie stark ist ihre institutionelle Komponente?
Wie kann die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit trotz des Diktums von den ausländischen Agenten fortgeführt werden, worin muss sie sich ändern?
Wir laden Sie herzlich dazu ein!
Dr. Rüdiger Sachau
Evangelische Akademie zu Berlin
Stefan Melle
Deutsch-Russischer Austausch
17. Deutsch-Russische Herbstgespräche
in Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Austausch e.V.
Mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung
Gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung
Freitag, 26. Oktober 2012
ab 13.00 Uhr Anmeldung (in der Französischen Friedrichstadtkirche)
14.30 Uhr Begrüßung und Einführung
Dr. Rüdiger Sachau, Evangelische Akademie zu Berlin
Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch
15.00 Uhr Große Proteste – große Revanche? Eine Bestandsaufnahme zur Entwicklung in Russland
Befindet sich Russland auf dem Weg in eine neue Diktatur? Welche übergreifende Idee verbindet die Schritte der russischen Regierung gegen die Protestbewegung?
Welche Folgen hat die Politik der russischen Regierung für das Land, seine Bevölkerung und seine Entwicklung?
Wie reagiert die Bevölkerung auf den Konflikt um Pluralismus und Modernisierung?
Welche Gründe gibt es für das Scheitern der russischen Protestbewegung?
Hat die Demokratie in Russland zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch eine Chance?
Ilja Ponomarev, Duma-Abgeordneter, Gerechtes Russland, Moskau
Evgenij Gontmacher, Prof. der Wirtschaftswissenschaften, Vorstandsmitglied des „Instituts für zeitgenössische Entwicklung“, Moskau
Svetlana Makovetskaya, Direktorin Zentrum für zivilgesellschaftliche Analyse und unabhängige Forschung „Grani“, Perm
Patrick Kurth, Mitglied des Deutschen Bundestages, Fraktion FDP Berlin
Marieluise Beck, Mitglied des Bundestages, Fraktion B90/Grüne, Berlin
Moderation: Boris Reitschuster, Focus, Berlin
16.30 Uhr Kaffeepause
17.00 Uhr Zivilgesellschaft ohne Mehrheit? NGOs zwischen Kritik und Unterstützung durch die Bevölkerung
Welche Rechte hat eine systemkritische Minderheit? Welche Verfassungsrahmen gibt es dafür in Russland und Deutschland?
Wo liegen Grenzen für die Legitimität von Veränderungsansprüchen?
Wie eigenständig ist die russische Protestbewegung und Zivilgesellschaft?
Welche Methoden haben die deutsche und russische Zivilgesellschaft entwickelt, um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen?
Wie können öffentliche Proteste und alternative Gesellschaftskonzepte auf eine institutionelle Ebene transferiert werden?
Ist die institutionelle Etablierung von Reformpositionen Bedingung für ihre Durchsetzung?
Olga Kryschtanovskaja, Soziologin mit Schwerpunkt Elitenforschung, Leiterin des Forschungszentrums „Laboratorija Kryschtanovskoj“, Wahlkampfbevollmächtigte Vladimir Putins bei den Präsidentschaftswahlen 2012, Moskau
Olga Romanova, Journalistin, Mitgründerin „Wähler-Liga“, Moskau
Prof. Jürgen Marten, Mitbegründer und Vorstandmitglied von Transparency International Deutschland e. V., Berlin
Susanne Rindt, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband (AWO), Leiterin Abt. Verbandsangelegenheiten, Engagementförderung und Zukunft der Bürgergesellschaft, Berlin
Moderation: Angelina Davydova, „Kommersant“ / DRA St. Petersburg
19.00 Uhr Filmpräsentation: Historischer Rückblick:
ZDF-Reportage über St. Petersburg 1992, die Anfänge der Zivilgesellschaft in Russland und den Deutsch-Russischen Austausch
20.00 Uhr Empfang mit Grußworten
zum 20-jährigen Bestehen des Deutsch-Russischen Austausch
im Großen Saal im Haus der EKD, Charlottenstr. 53/ 54 (gegenüber der Kirche)
Ende gegen 22.30 Uhr
Samstag, 27. Oktober 2012
Auftakt in der Französischen Friedrichstadtkirche
09.30 Uhr Zwischen Konservativen und Extremisten – wie der Staat sich vor Veränderung zu schützen versucht
Extremismus und Agententum: Begriffe und Instrumente zur Kontrolle von NGOs in Russland und Deutschland
„Ausländische Agenten“: das neue russische NGO-Recht im Vergleich mit internationalen Rechtsnormen
Verfassungsrahmen vs. politische Freiheiten: Bestärkung oder Konflikt?
Welche Rolle spielt das Justizsystem für die Durchsetzung der Rechte von gesellschaftspolitischen Minderheiten und Bürgerinitiativen?
Welche Aufgaben und Grenzen sind dem Staat beim Schutz der Gesellschaft gegenüber Veränderungen gesetzt?
Wie mobilisiert der Staat die Mehrheit für den Status Quo?
Impulsreferate:
Dmitrij Oreshkin, Politologe, Mitbegründer der „Mercator Group“, Initiator der Bewegung „Bürger Wahlbeobachter“, Institut für Geographie der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau
Timo Reinfrank, Stiftungskoordinator Amadeu Antonio Stiftung, Berlin
Moderation: Prof. Burkhard Breig, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin
11.00 Uhr Runde Tische/ Arbeitsforen A – C zu den vorangegangenen Themen
(mit Kaffee und Tee)
im Haus der EKD, Charlottenstr. 53/ 54 (gegenüber der Kirche)
Arbeitsforum A: Domzimmer
Arbeitsforum B: Ratssaal
Arbeitsforum C: Kapellenvorraum
12.30 Uhr Mittagsimbiss im Großen Saal der EKD
Abschluss in der Französischen Friedrichstadtkirche
13.15 Uhr Kollegen, Unterstützer, Spione? – Die internationale Zusammenarbeit nach dem russischen NGO-Gesetz über „ausländische Agenten“
Was bedeuten die Regelungen des russischen NGO-Gesetzes für die praktische Zusammenarbeit der NGOs und ihrer Partner im Ausland?
In welchen Formaten kann eine Kooperation mit russischen NGOs fortgesetzt werden? Erleidet sie thematische Einschränkungen?
Wie weit darf ausländische Unterstützung gehen? Was darf sie, was darf sie nicht?
Trägt eine ausländische Förderung künftig zur Stigmatisierung der russischen NGOs bei?
Wie ist das potentielle Spannungsverhältnis zwischen nationalen Souveränitätsrechten und universalen Menschenrechten zu lösen?
Dmitrij Oreshkin, Politologe, Mitbegründer der „Mercator Group“, Initiator der Bewegung „Bürger Wahlbeobachter“, Institut für Geographie der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau
Svetlana Makovetskaya, Direktorin Zentrum für zivilgesellschaftliche Analyse und unabhängige Forschung „Grani“, Perm
Prof. Michael Rutz, Mitglied des Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs e.V., Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums e.V., Berlin-Hamburg
Jens Siegert, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin
Moderation: Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch, Berlin
14.45 Uhr Schlusswort und Verabschiedung
15.00 Uhr Ende der Veranstaltung