Der Samariter wird in der Rezeptionsgeschichte zum Urbild von Diakonie, dem sozialen Handeln der Christinnen und Christen. Die Lesart vom Helfenden, der als Gegenentwurf zum Jüdischen fungiert, lässt aber eines außer Acht: Mit dem Gleichnis diskutiert Jesus als Jude mit seinen jüdischen Mitmenschen über die Bedeutung und Umsetzung der Nächstenliebe, die einen zentralen Ausdruck der Gottesverehrung im Judentum darstellt.
In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen stellen renommierte sowie junge Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten. Klischeehafte christliche Vorstellungen wirken oft bildhaft im säkularisierten Antisemitismus weiter: der alttestamentarische Gesetzesglauben; der Rachegott, der Blutopfer als Sühne verlangt und Beschneidung anordnet; der eine bestimmte Gruppe auserwählt (Kirche oder Synagoge) und dessen Verheißungen Nationalismus und Kolonialismus schüren.
In wissenschaftlich fundierten, aber leicht zugänglichen Auslegungen bestimmter Textpassagen hinterfragen wir diese karikierenden Vorstellungen jeden zweiten Donnerstag im Monat. Die Exeget*innen schneiden dabei die antijüdische Rezeptionsgeschichte kurz an, entwickeln aber vor allem neue, kreative und lebendige Verständnismöglichkeiten, in denen die Schrift in ihrer Tiefe und Mehrdimensionalität neu zur Geltung kommt. Die Vorträge sollen Lust machen, das Potenzial biblischer Texte neu zu entdecken und zu zeigen, wie sehr wir davon profitieren, wenn wir sie mit der jüdischen Tradition und nicht gegen sie lesen.
Anni Hentschel ist Professorin für Neues Testament und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Ihre jüngste Publikation heißt Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie.