Geschichtlich Gesichertes weiß man nicht über den Apostel, der den immer noch ungeklärten Beinamen Iskariot trägt. Schon die früheste Erwähnung seiner Person in Markus 3,19 ist mit dem verbunden, was ihm einen Platz in der biblischen Überlieferung und in der Phantasie einbrachte: mit seiner Verstrickung in die Ereignisse um die Kreuzigung Jesu. Versuche des Erklärens, wie ein Apostel dazu fähig war, finden sich bereits im Markus-Evangelium und noch vehementer in späteren neutestamentlichen und kirchlichen Erzählungen. Im Verlauf einer sich entwickelnden Christologie wurde das Erzählte immer mehr auch zu einem theologischen Problem.
Wenig verwunderlich wurde die Lösung in der Judenfeindschaft gesucht. Judas wird zu einem negativen Typus des Judentums stilisiert. Allerdings blieb es der Neuzeit vorbehalten Judas völlig aus seinem biblischen Kontext zu entfremden und ihn zu einer Figur des antisemitischen Hasses zu machen.
In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen stellen renommierte sowie junge Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten. Klischeehafte christliche Vorstellungen wirken oft bildhaft im säkularisierten Antisemitismus weiter: der alttestamentarische Gesetzesglauben; der Rachegott, der Blutopfer als Sühne verlangt und Beschneidung anordnet; der eine bestimmte Gruppe auserwählt (Kirche oder Synagoge) und dessen Verheißungen Nationalismus und Kolonialismus schüren.
In wissenschaftlich fundierten, aber leicht zugänglichen Auslegungen bestimmter Textpassagen hinterfragen wir diese karikierenden Vorstellungen jeden zweiten Donnerstag im Monat. Die Exeget*innen schneiden dabei die antijüdische Rezeptionsgeschichte kurz an, entwickeln aber vor allem neue, kreative und lebendige Verständnismöglichkeiten, in denen die Schrift in ihrer Tiefe und Mehrdimensionalität neu zur Geltung kommt. Die Vorträge sollen Lust machen, das Potenzial biblischer Texte neu zu entdecken und zu zeigen, wie sehr wir davon profitieren, wenn wir sie mit der jüdischen Tradition und nicht gegen sie lesen.
Prof. Dr. Rainer Kampling studierte Katholische Theologie, Lateinische Philologie und Judaistik. Nach einer Professur für Neues Testament in Saarbrücken wurde er Professor für Biblische Theologie an der Freien Universität Berlin. Er gehört dem Direktorium des Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg an und ist Koordinator des Verbundprojekts „Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus“.
Weitere Termine
9. Februar 2023
Landnahme
Martin Vahrenhorst über die Verbindung von Volk, Gott und Land
9. März 2023
Das Sabbatgebot
Andreas Pangritz über die Möglichkeiten der Auslegung des Sabbatgebotes
13. April 2023
Werft nicht Heiliges vor die Hunde?
Angela Standhartinger spürt Tendenzen nach, Jüdinnen und Juden mit Tiervergleichen zu entmenschlichen
11. Mai 2023
Die Vernichtung der Völker
Klara Butting befasst sich mit dem Gewaltbild von der Vernichtung der Urbevölkerung in Kanaan