Mit ihrer Mutterschaft und Genealogie wurde Rut typologisch zur Ahnfrau der Kirche der Heiden gemacht, womit die theologische Funktion des Buches Rut für die Kirchenväter erschöpft war. Die Exegeten des 19. Jahrhundert dann trivialisierten die Erzählung als idyllisches Büchlein der romantischen Erbauung.
Sara Han weist darauf hin, dass diese antijüdische christologische Lesart des Buches Rut etwas Wichtiges verdeckt und verdrängt: die aktive Frauenperspektive und die lebensförderliche Ausdeutung der Rechtstexte, mit der die biblische Erzählung konsequent die Themen Armut, Tod, Flucht und Fremdsein verhandelt. In ihrem Vortrag wird die Theologin der christlichen Fixierung nachgehen, die den Blick auf die eigentliche Aussage des Bibeltextes verstellte, und das theologisch-politische Potenzial des Buches Rut herausstellen. Sie wird zeigen, dass die Geschichte christlicher Judenfeindschaft eng mit der Geschichte der Frauenfeindlichkeit verbunden ist.
In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen stellen renommierte sowie junge Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten. Klischeehafte christliche Vorstellungen wirken oft bildhaft im säkularisierten Antisemitismus weiter: der alttestamentarische Gesetzesglauben; der Rachegott, der Blutopfer als Sühne verlangt und Beschneidung anordnet; der eine bestimmte Gruppe auserwählt (Kirche oder Synagoge) und dessen Verheißungen Nationalismus und Kolonialismus schüren.
In wissenschaftlich fundierten, aber leicht zugänglichen Auslegungen bestimmter Textpassagen hinterfragen wir diese karikierenden Vorstellungen jeden zweiten Donnerstag im Monat. Die Exeget*innen schneiden dabei die antijüdische Rezeptionsgeschichte kurz an, entwickeln aber vor allem neue, kreative und lebendige Verständnismöglichkeiten, in denen die Schrift in ihrer Tiefe und Mehrdimensionalität neu zur Geltung kommt. Die Vorträge sollen Lust machen, das Potenzial biblischer Texte neu zu entdecken und zu zeigen, wie sehr wir davon profitieren, wenn wir sie mit der jüdischen Tradition und nicht gegen sie lesen.
Sara Han ist Postdoktorandin und arbeitete im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung getragenen Verbundprojekt „Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus“ an der Freien Universität Berlin. Nach ihrem Magister-Studium der Judaistik und katholischen Theologie wurde sie am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin promoviert. Den Schwerpunkt ihrer Forschungen bilden die theologische Antisemitismusforschung und der jüdisch-christliche Dialog nach der Shoa.