Was ist „gutes Sterben“?
Bericht vom 43. Workshop Medizinethik
Nach dem Umgang mit Idealen und Patientenwünschen für die letzte Lebensphase im Krankenhaus fragte der 43. Workshop Medizinethik der Evangelischen Akademie und des St. Joseph-Krankenhauses Berlin Tempelhof am 12. November.
Herr Endlich (69) ist unheilbar krank. Sein Krebsleiden hat zu starken Schmerzen geführt, er leidet zunehmend unter Luftnot. Zwischenzeitlich hatte er bei einer seiner Töchter gelebt, nun wird er auf der Palliativstation des Krankenhauses St. Hildegard erwartet, wo man den Patienten schon von früher kennt. Oberärztin und Stationsschwester beraten im Vorfeld, was für den charakterlich eher schwierigen, nun körperlich und seelisch schwer mitgenommenen Mann tun könnte. Sollte man ihm Aroma- oder Musiktherapie anbieten, könnten Massagen helfen, sollte die Seelsorgerin doch noch einen weiteren Anlauf unternehmen, mit ihm ins Gespräch zu kommen? Die beiden sprechen auch darüber, ob eine Klinik nicht doch mehr Möglichkeiten hat als ein Privathaushalt, einen Menschen in der letzten Lebensphase zu begleiten. Bis hin zur palliativen Sedierung, falls die Beschwerden übermächtig werden sollten. Noch während Schwester Hanna und Oberärztin Dr. Kümmer sich beraten, klingelt das Telefon: Herr Endlich ist gerade zuhause gestorben.
Personen und Ort des Geschehens sind fiktiv, sie entstammen der kleinen Szene, die der Arbeitskreis Ethische Anspielungen des St. Joseph-Krankenhauses Berlin Tempelhof am 12. November 2016 auf die „Bühne“ der Französischen Friedrichstadtkirche brachte. Sie war der Auftakt für den 43. Workshop Medizinethik, den die Evangelische Akademie zu Berlin wie gewohnt zusammen mit dem St. Joseph-Krankenhaus Berlin Tempelhof veranstaltete. Thema: „Was ist gutes Sterben? Zum Umgang mit Idealen und Wünschen im Krankenhaus“.
Gibt es das überhaupt – „gutes Sterben“? „Ich hasse den Tod“, bekannte vor einigen Jahren der Münchner Herzchirurg Bruno Reichart. Auch der Schriftsteller Elias Canetti wurde nicht müde, trotzig seine Überzeugung zu wiederholen: „Der Tod ist ein Skandal.“ Mag eine solche Haltung auch wenig realitätsbewusst erscheinen, so dürfte doch weitgehende Einigkeit unter den Lebenden herrschen, dass sie das Ende fürchten und das Sterben möglichst lang vermeiden wollen. Von „gutem Sterben“ zu sprechen, mag auch angesichts der Tatsache befremdlich erscheinen, dass viele junge, gesunde Menschen unter sehr unguten Umständen in Kriegen ihr Leben lassen. Die „Intelligence Unit“ des britischen „Economist“ hat sich trotzdem getraut, in einer wissenschaftlichen Studie nach der „Qualität des Sterbens“ (infolge einer unheilbaren Krankheit) zu fragen und hat im letzten Jahr ein Ranking der Palliativversorgung in 80 Ländern der Erde vorgenommen. Im „Quality of Death“-Index liegt Deutschland demnach auf Platz 7 vor den Niederlanden, den USA und Frankreich, Großbritannien liegt an der Spitze.
868 356 Menschen sind im Jahr 2014 in Deutschland verstorben. Die größte Gruppe unter ihnen, nämlich 403787 Menschen, in einer Klinik. Dabei wünscht sich eine Mehrheit von 66 Prozent der Deutschen, die letzte Lebenszeit in der vertrauten häuslichen Umgebung zu verbringen. Das zeigt eine Studie des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes, die 2012 erschien. Nur drei Prozent der 1044 befragten Erwachsenen nennen dort beim Gedanken an das Sterben die Klinik als ihren bevorzugten Ort, 18 Prozent eine Einrichtung der Sterbebetreuung, also ein Hospiz oder eine Palliativ-Einrichtung. Bei einer Befragung des Zentrums für Qualität in der Pflege aus dem Jahr 2013 wünschten sich sogar 27 Prozent, in einem Hospiz zu sterben.
Die meisten Untersuchungen, die es weltweit bisher zu diesem Thema gibt, sind allerdings standardisierte Befragungen, in denen komplexe Themen schlecht behandelt werden können, oder aber qualitative Interviews, die zwar mehr in die Tiefe gehen, aber nur kleine Stichproben umfassen. Dieses Manko verdeutlichte beim Workshop Dr.Ulrich Stößel, der im Bereich Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Freiburg tätig ist. Im Projekt „GUSTE“ (für: Gutes Sterben) haben er und seine Mitarbeiter zuletzt 434 Studierende der Medizin ausführlich zu ihren Vorstellungen befragt. Gutes Sterben, das beinhaltet für die angehenden Ärzte vor allem folgende Aspekte: Kontrolle über das eigene Leben und Vertrauen in das medizinische wie pflegerische Personal haben zu können, sich psychisch wohl zu fühlen und Kontakt zu Familie und Freunden pflegen zu können, in einer angenehmen Umgebung zu leben und keine Angst haben zu müssen, anderen zur Last zu fallen, spirituelle Überzeugungen zu haben und sein Leben als konsistent zu empfinden. Es umfasst für die angehenden Mediziner aber auch die Möglichkeit, gegen den Tod kämpfen zu können.
Dass sie sich schon mit Mitte 20 den Fragen nach dem „guten Sterben“ stellten, begrüßte der erfahrene Palliativmediziner Prof. Dr. med. Winfried Hardinghaus. „Auch jüngere Menschen sollten sich mit Sterben und Tod befassen“, sagte der Chefarzt der Klinik für Palliativmedizin am Franziskus-Krankenhaus Berlin beim Workshop. Er wünscht sich informierte Bürger, die für das Unvermeidliche Vorsorge treffen, zum Beispiel mit einer Patientenverfügung. Die sollte nach Möglichkeit eine „Reichweitenbegrenzung“ enthalten, also Angaben darüber, für welche Fälle welche der dort getroffenen Äußerungen gelten sollen.
1983 wurde Deutschlands erste Palliativstation in der Uniklinik Köln eröffnet. Seitdem hat sich die Palliativmedizin, deren Therapieangebote nicht das Ziel der Heilung, sondern das der Linderung von Symptomen verfolgen, in Deutschland stark entwickelt. Zu den stationären sind allgemeine und spezialisierte ambulante Angebote gekommen. Sie beinhalten unter anderem Hilfe bei Atemnot, die nicht nur in Folge von Krebsleiden, sondern auch bei Herzschwäche und chronischen Krankheiten der Lunge auftreten kann, aber auch Linderung von Schmerzen und Angstzuständen. „Wir können in der Palliativmedizin heute jeden, wirklich jeden würdevoll und ohne Schmerzen sterben lassen“, versicherte Hardinghaus. Im Einzelfall sei dazu freilich eine sogenannte palliative Sedierung nötig, die dem Betroffenen zeitweilig oder bis zuletzt das Bewusstsein nimmt.
Das 2015 im Bundestag beschlossene Hospiz- und Palliativgesetz sieht eine solche Versorgung nicht nur ambulant, sondern ausdrücklich auch für alle Krankenhäuser vor. Das Ziel, flächendeckend eine „qualitativ hochwertige und evidenzbasierte“ Palliativmedizin anzubieten, sei allerdings noch nicht erreicht, heißt es in einer Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die ebenfalls aus dem letzten Jahr stammt.
Hardinghaus hob in seinem Vortrag auch hervor, wie stark sich die – in Umfragen als Sterbeorte nach wie vor wenig „beliebten“, in einigen Fällen aber wegen ihrer Behandlungsangebote unumgänglichen - Krankenhäuser inzwischen verändert haben. Individuelle Wünsche würden dort so gut wie möglich berücksichtigt. Er berichtete sogar von Sterbenden, die ihre geliebten Haustiere im Zimmer hatten. „Und kürzlich nahm ein Patient auf unserer Palliativstation von 47 Angehörigen Abschied.“
Ein Einzelzimmer, in dem man eigene Musik hören kann, die Möglichkeit, rund um die Uhr Besuch von nahen Angehörigen zu bekommen und dabei sogar von irritierenden Monitoren verschont zu bleiben, die nur in der Zentrale angebracht sind: All das wird heute auch auf Intensivstationen Patienten in der letzten Lebensphase ermöglicht. Es muss nicht mit Lebensverlängerung um jeden Preis zu tun haben, wenn Menschen dort sterben. Denn die Beschwerden einiger Patienten sind nur so wirklich in den Griff zu bekommen. Andere wünschen sich für einen umschriebenen Zeitraum eine Behandlung ihrer Symptome, um noch letzte unerledigte Dinge regeln zu können. Dr. med. Christoph Büttner, Leitender Oberarzt der Intensivstation am St. Joseph-Krankenhaus, berichtete beim Workshop über einen Patienten Anfang 50 mit Krebs der Bauchspeicheldrüse und starken Wassereinlagerungen in der Lunge. Ihm habe es eine kurzzeitige Blutwäsche (Dialyse) ermöglicht, vor seinem Tod noch einige dringende Gespräche zu führen. „Die Intensivmedizin muss nicht im Widerspruch zum selbstbestimmten Sterben stehen“, betonte Büttner. Allerdings sei es wichtig, klare Therapieziele zu haben und sie den Umständen entsprechend jederzeit verändern zu können. „Leider gibt es auch eine Gruppe von Patienten, für die das nicht gilt und die eigentlich nicht zu uns kommen sollten. Wir versuchen diese Gruppe möglichst klein zu halten.“
Eine Gruppe, die in den nächsten Jahren unweigerlich wachsen dürfte, ist die der Menschen, die mit einer dementiellen Erkrankung ihre letzte Lebensphase in einer Institution verbringen. Was ist „gutes Sterben“ für sie? Wir wissen es nicht – zumindest nicht aus verbalen Äußerungen. Aus ihrer reichen Berufserfahrung konnte die GerontologinGisela Gehrmann, ausgebildete Pflegekraft und Geschäftsführerin eines Potsdamer Unternehmens mit dem ermutigenden Namen „Schickes Altern“, trotzdem wertvolle Hinweise geben. „Inzwischen gibt es viel Praxiswissen zur Kommunikation mit Dementen, doch die Krankenhäuser sind leider sehr zurückhaltend, sich hier Expertise zu holen“, kritisierte Gehrmann. Viel zu selten würden körperliche Gründe für auffälliges Verhalten in Betracht gezogen. So würden Schmerzsymptome oft verkannt. „Menschen mit Demenz bekommen deutlich weniger Schmerzmittel.“ Oft könnten dabei schon einfache Veränderungen der Abläufe im Krankenhaus helfen. „Ein Mensch mit Schluckstörungen muss sein Essen nicht in der Haupt-Mittagszeit bekommen.“
Ist das christliche Krankenhaus ein besonders geeigneter Ort, um „gut“ zu sterben? Man dürfe diese Frage nicht leichtfertig beantworten, gab Diakon Reinhard Feuersträter in seinem Vortrag zu bedenken. „Auch das Sterben in einem christlichen Krankenhaus ist schließlich eingebettet in einen hektischen Alltag“, sagte der Leiter der Abteilung Seelsorge und Sozialdienst des Krankenhauses St. Elisabeth und St. Barbara in Halle an der Saale. Andererseits könne man auf eine lange Geschichte zurückblicken, in der christliche Häuser „Vorreiter in der Betreuung sterbender Menschen“ waren. Den Tod nicht zu verdrängen, das Sterben als Teil – und „schwerste Krise“ - des Lebens anzunehmen, dieser Aufgabe können und müssen sich nach Feuersträters Ansicht auch die Krankenhäuser stellen. „Rechnen im wirtschaftlichen Sinn wird sich das sicher nicht. Und doch rechnen die Menschen damit, wenn sie in ein christliches Krankenhaus gehen.“
Dass gute Sterbebegleitung ohne Nächstenliebe nicht denkbar sei, hatte zuvor schon Palliativmediziner Hardinghaus in seinem Vortrag betont. Er definierte sie bewusst ganz allgemein als „die Güte, die man seinen Mitmenschen entgegen bringt“. Sterbende erhoffen sich auch in einer großen, oft anonym wirkenden Institution das, was der Dichter Rainer Maria Rilke in einer Art Stoßgebet so zusammenfasste: „Oh Herr, gib jedem seinen eigenen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ Damit das gelingt, darf der Gesprächsfaden mit den Sterbenskranken und ihren Angehörigen nicht abreißen, aller Hektik des Krankenhaus-Alltags zum Trotz.
Neben Ärzten, Pflegekräften und Psychologen sind es oft die Seelsorger, die von den lebensgeschichtlichen und kulturellen Hintergründen und den ganz persönlichen Wünschen Sterbender hören. Anne Heimendahl, Seelsorgerin am Berliner Helios-Klinikum Emil von Behring, sprach beim Workshop über die immense Bedeutung, die neben dem Wissen über andere Kulturen und Religionen einer fragenden, kultursensiblen Haltung zukommt. Derart offen könne man Sterbenden allerdings nur entgegen treten, wenn man zuvor seine eigene Einstellung reflektiert habe. „Gut“ wünscht jede und jeder sich das Sterben schließlich auch für sich selbst.
Adelheid Müller-Lissner
Erschienen am 25.10.2019
Aktualisiert am 25.10.2019