35. Workshop Medizinethik: Von Emotionen zu Entscheidungen

Medizin und Pflege
Medizin und Pflege

Von Emotionen zu Entscheidungen

35. Workshop Medizinethik

3. November 2012

Wie können in Krankenhäusern tragfähige Lösungen zu Fragen der künstlichen Ernährung gefunden werden?

Groß war die Resonanz auf den 35. Workshop Medizinethik, zu dem die Evangelische Akademie zu Berlin zusammen mit dem St. Joseph Krankenhaus am 3. November 2012 in die Französische Friedrichstadtkirche geladen hatte. Die Journalistin Adelheid Müller-Lissner war dabei.

„Ich wünschte, ich müsste eine solche Entscheidung gar nicht treffen“, seufzt Frau Meister. Da sie die Vorsorgevollmacht für ihre alte Mutter hat, kann sie dem, was jetzt ansteht, aber nicht ausweichen. Allenfalls kann sie auf Hilfe von Ärzten, Pflegekräften und Krankenhausseelsorgerin hoffen, die sich so bald wie möglich zu einer klinischen Fallbesprechung versammeln werden. Es geht um die 83-jährige Frieda Förster, die vor fünf Tagen einen Schlaganfall unter Mitbeteiligung des Stammhirns erlitt. Nun ist sie halbseitig gelähmt, kann nicht sprechen und nicht schlucken, ist nicht bei klarem Bewusstsein. Welche Behandlung sie selbst sich in dieser Situation wünschen würde, kann sie nicht zum Ausdruck bringen. Nun aber steht die Frage im Raum, ob Frau Förster eine PEG-Sonde zur künstlichen Ernährung bekommen soll. Aktuell wird sie mit einer Nasensonde ernährt. Doch das ist keine Dauerlösung – und es kann auch nicht so bleiben, wenn sie einen der begehrten Plätze in der Früh-Reha bekommen soll. Denn von dort kam das Signal: Wir nehmen die Patientin nur auf, wenn ihr zuvor eine PEG-Sonde gelegt wurde, über die sie langfristig künstlich ernährt werden kann. Das Kürzel stehe für „perkutane endoskopischen Gastrostomie“, hat die Ärztin der Tochter erläutert. Nach einem kleinen Eingriff, für den eine Magenspiegelung nötig ist, soll ihre Mutter durch einen Schlauch mit Nahrung direkt durch die Bauchwand versorgt werden. Doch ist es richtig, diesem Eingriff zuzustimmen? Welche Chancen bestehen überhaupt, dass sich der Zustand der schwerkranken alten Dame in der Reha wieder verbessert, so dass sie später wieder am Leben teilhaben, vielleicht sogar mit Kindern und Enkeln zusammen am Esstisch sitzen kann? Wäre es nicht besser, sie jetzt in Frieden sterben zu lassen? Eine Fülle von Fragen, und sie quälen Frau Meister.

Sie ist eine fiktive Angehörige, aber durchaus realitätsnah erfunden vom Arbeitskreis Ethische Anspielungen des St. Joseph Krankenhauses in Berlin-Tempelhof. Der spielte die kleine Szene als Einstimmung in den Workshop Medizinethik am 3. November. Das dicke Fragezeichen, das landauf landab immer wieder Angehörige wie Frau Meister beschäftigt, fand sich bei diesem Workshop schon im Titel: „Künstliche Ernährung? Entscheidungsfindung im klinischen Alltag“.

Rein rechtlich wurden dabei in den letzten Jahren einige Fragezeichen beseitigt, wie Dr. med. Florian Bruns darlegte, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Berliner Charité. Ganz zentral dabei: Die künstliche Ernährung mittels PEG gilt nicht als Teil der Basisversorgung des Patienten, sondern ist Bestandteil der Therapie. Wie jede andere Behandlung steht sie auf zwei Säulen: Der ärztlichen Indikation und der informierten Zustimmung des Patienten. In der „Kaskade der  Willensermittlung“ steht selbstverständlich der aktuelle Wille eines einwilligungsfähigen Patienten an erster Stelle. Wenn sich der Betreffende selbst nicht (mehr) äußern kann, ist das bindend, was in einer schriftlichen Vorausverfügung (Patientenverfügung, auch als „Patiententestament“ bezeichnet) festgehalten ist. Wo eine solche Verfügung nicht vorliegt (oder den Punkt nicht behandelt), muss der „mutmaßliche Wille“ des Patienten ermittelt werden. „Was der Patient möchte, zählt.“ Und die Frage danach ist es, die Frau Meister in der fiktiven Szene als Bevollmächtigte ihrer Mutter quält.

In seinem Vortrag beschäftigte sich Bruns, der am Klinikum auch als Ethikberater arbeitet, mit der Rolle der Emotionen in ethischen Entscheidungsprozessen. Er stellte zunächst fest: „Das Bauchgefühl kann wertvolle Hilfe bei Abwägungen leisten.“ Denn oft deute es auf tiefer liegende Probleme hin. Bei Fallbesprechungen und in klinischen Ethikkommissionen solle deshalb ganz explizit nach den Gefühlen der Beteiligten gefragt werden, man tue gut daran, sie zu nutzen, statt sie abzuspalten. „Sie sind keine Argumente, doch hinter ihnen können Argumente stecken.“ Um dieses Potenzial in Fallbesprechungen zu nutzen, müsse man allerdings die Sitzungen umsichtig planen. So sei es wichtig, sich vorher Gedanken über deren Inhalte zu machen und das in Vorgesprächen abzuklären, auf die ausgewogene Zusammensetzung der Gesprächsgruppe und deren Moderation zu achten und generell für „Entschleunigung“ zu sorgen. „Ganz wichtig ist es auch, negativ aufgeladene Begriffe kritisch zu hinterfragen.“ Die Macht der Sprache mache sich, was das Thema künstliche Ernährung betrifft, vor allem in diesem Satz bemerkbar, den Angehörige auch heute noch in Pflegeheimen und Krankenhäusern  immer wieder zu hören bekommen: „Wir dürfen Ihre Mutter doch nicht verhungern und verdursten lassen!“ Die Begriffe „verhungern“ und „verdursten“ beinhalten allerdings, dass die betreffende Person unfreiwillig keine Nahrung zu sich nimmt, wie Bruns betonte.
 
Der Magen-Darm-Spezialist und Ernährungsmediziner Prof. Dr. med. Heinrich Josef Lübke, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin II am HELIOS Klinikum Emil von Behring in Berlin-Zehlendorf, hält es deshalb für wichtig, zu einer anderen Betrachtungsweise zu finden, wenn es um die Sterbephase eines Menschen geht. Er zitierte dafür Cicely Saunders, eine der Begründerinnen der modernen Palliativmedizin:  „Menschen sterben nicht, weil sie nicht essen; Menschen essen nicht, weil sie sterben.“ Studien zeigen, dass künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr diesen Prozess erschweren können. Umgekehrt macht eine Befragung von Pflegekräften in Hospizen Mut, was den Verzicht auf solche Maßnahmen bei guter palliativer Pflege betrifft: 85 Prozent der terminal kranken Patienten, die aufgehört hatten zu essen und zu trinken, waren 14 Tage danach verstorben, und zwar nach der Einschätzung der Pflegekräfte ausgesprochen friedlich.

„Studien belegen auch, dass es Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz keinen Vorteil bringt, wenn sie mit einer PEG-Sonde ernährt werden“ berichtete Lübke. Weder verlängere es ihr Leben, noch verbessere es dessen Qualität. Dafür drohten Nebenwirkungen wie Infektionen oder auch die verringerte Zuwendung der Pflegekräfte beim geduldigen Versuch, die Betroffenen zu füttern und ihnen doch noch Erlebnisse mit dem Riechen und Schmecken zu ermöglichen. PEG-Sonden würden häufig zu spät angelegt, über die Hälfte der Patienten sterbe heute im ersten Monat danach fast ein Viertel noch im Krankenhaus. Lübke schloss sich dem Palliativmediziner Gian Domenico Borasio an: „Das Legen einer PEG-Sonde ist bei Patienten mit einer fortgeschrittenen Demenz nicht nur unwirksam, sondern schädlich.“
In seinem einführenden Überblicksvortrag hatte der Internist zunächst festgestellt, dass die ethische Frage nach einer künstlichen Langzeiternährung noch relativ jung ist: Noch vor 30 Jahren hat sie sich im klinischen Alltag nicht gestellt, weil nur die kurzfristige Versorgung mit Nährstoffen durch die Blutbahn („parenterale Ernährung“) oder die unbequemere Ernährung über Nasensonden technisch möglich war. PEG-Sonden, wie sie inzwischen in jedem Jahr in Deutschland 140 000 Mal gelegt werden, sind erst seit Mitte der 80er Jahre verfügbar. 70 Prozent von ihnen werden Heimbewohnern appliziert.
Lübke entwickelte einige Szenarien, bei denen heute Formen der künstlichen Ernährung in der Klinik als Teil der Therapie zum Einsatz kommen: Etwa bei Patienten, die wegen einer schweren Blutvergiftung (Sepsis) auf der Intensivstation liegen, nicht bei Bewusstsein sind und beatmet werden oder bei Patienten, die wegen einer neurologischen Erkrankung oder wegen eines Tumors im Bereich des Mundes oder des Halses nicht schlucken und essen können, aber mit Operationen, Medikamenten oder Bestrahlungen behandelt werden. Bei diesen Krebspatienten sei die künstliche Ernährung  in vielen Fällen Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Behandlung möglich werde. Auch bei einigen Schlaganfall-Opfern sind ohne PEG-Sonde bestimmte Formen der Behandlung nicht möglich, etwa Logopädie bei Sprachstörungen. Schwieriger liege der Fall etwa bei einer dementen Patientin, die wegen eines Oberschenkelhalsbruchs operiert wird, zugleich aber unter- und mangelernährt ist. „Wir müssen uns im klinischen Alltag immer wieder fragen: Machen die anderen therapeutischen Möglichkeiten Sinn, wenn wir die Ernährung außer Acht lassen?“

PD Dr. Stefan Heuser vom Lehrstuhl für Ethik am Fachbereich Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg, mahnte für die Entscheidungsfindung in schwierigen ethischen Fragen im Krankenhaus eine „für jeden zugängliche“ Ethik an, die sich an der Haltung der „Nächstenschaft“ orientiert und aus der Kenntnis der konkreten medizinischen Verfahren, Fallgruppen und Behandlungsziele urteilt. Bei der Entscheidung für oder gegen die künstliche Ernährung gelte es dabei immer, die grundsätzliche Option für den Schutz des Lebens gegen die im Einzelfall fraglichen Möglichkeiten eines guten oder auch nur erträglichen Lebens abzuwägen. „Künstliche Ernährung darf nicht nur gegen den Tod gerichtet sein, zu einem erträglichen menschlichen Leben gehört, dass man sterben darf.“ Im Einzelfall gehe es auch darum, „sterben zu dürfen, und nicht in einem Schwebezustand gehalten zu werden“.  Allerdings gab Heuser auch zu bedenken, in unserer schnelllebigen Zeit lasse sich die Sonden-Ernährung „gegen bestehende Trends manchmal auch als Zeichen der Geduld interpretieren“.
Geduld ist in vielen Fällen vor allem bei der Suche nach der richtigen Entscheidung gefragt. Christa Burkhardt, evangelische Seelsorgerin am St. Joseph-Krankenhaus, sieht ihre Rolle auch darin, die Position der Angehörigen zu stärken. „Sie haben oft im Krankenhausgetriebe nicht so eine laute Stimme und suchen bei mir eine Art ‚Erlaubnis‘, sich zu äußern.“ Dann sei es hilfreich, wenn das Haus den Rahmen für gemeinsame ethische Fallbesprechungen biete.

„Ethisches Nachdenken und Handeln sollte allerdings nicht allein solchen Nischen vorbehalten bleiben“, forderte in der Diskussion Dr. med. Barbara Schubert, leitende Oberärztin im Dresdner St. Joseph-Stift.  Schon zuvor hatte Ernährungsmediziner Lübke dafür plädiert, auch Chefvisiten als „ethikorientierte Zusammenkünfte“ zu begreifen und sie zu nutzen, um über die Grenzen medizinischer Fachgruppen hinweg über solche Fälle zu diskutieren.
So machte der 35. Workshop Medizinethik deutlich: Ob und wie künstliche Ernährung als Therapieform beim einzelnen Kranken eingesetzt werden sollte, ist ein vergleichsweise neues Thema. Weil es einen elementaren Bereich des menschlichen Lebens, der menschlichen Selbstbestimmung und der menschlichen Gemeinschaft berührt, ist der Umgang damit aber ein wichtiger Prüfstein für die Qualität jedes Krankenhauses.

Adelheid Müller-Lissner  

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