Der Kinderfreund Jesus
Der historische Blick auf das Leben Jesu liefert seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder neue „Beweise“ für Fortschrittlichkeit und Überlegenheit des Christentums dem Judentum gegenüber. Aufgeklärt und frauenfreundlich, offen und tolerant, modern und aufgeschlossen, erscheint Jesus als der „neue Mann“, dessen Botschaft sich radikal von seiner jüdischen Umgebung, Kultur, und Religion abzugrenzen scheint. Der schöne Satz aus dem Markusevangelium „Lasset die Kinder zu mir kommen“ (Mk 10,14) wird vor diesem Hintergrund zu einer Kampfansage an die jüdische Tradition, in der Kinder angeblich nicht ernst genommen oder respektiert werden. Unterschiedliche Stereotype wie eine generelle Kinder- oder Frauenfeindlichkeit werden auf das Judentum projiziert, um Jesus fortschrittlicher erscheinen zu lassen. Diese Projektionen, so Martin Leutzsch in seinem Vortrag, stabilisierten christliche Identität und kirchlichen Zusammenhalt inmitten einer rasanten Säkularisierungswelle seit dem 19. Jahrhundert. Brauchen wir diese „Überbietung“ und Verächtlichmachung des Jüdischen auch heute noch, um das christliche Selbstverständnis zu stabilisieren?
Martin Leutzsch ist Professor Emeritus für Biblische Theologie an der Universität Paderborn, Mitherausgeber der Bibel in gerechter Sprache, und Autor wichtiger Beiträge zur sozialgeschichtlichen Exegese, der Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments im christlich-jüdischen Gespräch, und zu Genderfragen.
Erschienen am 17.07.2024
Aktualisiert am 15.08.2024