Der zwölfjährige Jesus im Tempel
Claudia Janssen zur Überlegenheitshermeneutik
Nach einem Skandal um sein Gemälde des zwölfjährigen Jesus im Tempel sah sich Max Liebermann im Jahr 1879 gezwungen, seine ursprüngliche Darstellung zu übermalen: Den dunkelhaarigen, barfüßigen jüdischen Jesus im angeregten Gespräch mit den Schriftgelehrten verwandelte er in eine blonde Lichtfigur im blütenweißen Gewand. Warum, fragt Claudia Janssen, brauchen wir diese Überlegenheitshermeneutik, mit der sich Jesus von seinem jüdischen Umfeld abhebt?
Anhand des griechischen Originaltextes von Lukas 2,41-50 zeigt sie, dass sich Jesus im Gegenteil gerade zugehörig und wohlfühlt „unter denen, die zu meinem Vater gehören“ (Lukas 2,49). Es geht schon am Anfang des Lukasevangeliums, in der Darstellung der beiden schwangeren Frauen Maria und Elisabeth, nicht um Konkurrenz und Überlegenheit, sondern um Kontinuität und Einbettung in die Frömmigkeitsgeschichte Israels.
In unserer Reihe Antisemitismuskritische Bibelauslegungen stellen wechselnde Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten.
Prof.‘in Dr. Claudia Janssen ist Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Sie ist Mitherausgeberin der Bibel in gerechter Sprache (2006) und des Sozialgeschichtlichen Wörterbuchs zur Bibel (2009).
Eine schriftliche Fassung des Vortrags ist nachzulesen in der Broschüre "Störung hat Vorrang. Christliche Antisemitismuskritik als religionspädagogische Praxis", die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus gemeinsam mit unserem Projekt DisKursLab herausgegeben wurde. Auf der Website des Netzwerks antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie (narrt) steht er ebenfalls im Volltext zur Verfügung.
Erschienen am 14.10.2021
Aktualisiert am 12.07.2023