Die Vernichtung der „Völker“
Gewalt und Identitätsfindung
Im fünften Buch Mose steht der Bann gegen die „Hethiter, Amoriter, Kanaaniter, Phereister, Heviter, und Jebusiter“ (17 -20), mit dem Gott augenscheinlich die Auslöschung der Urbevölkerung Kanaans fordert. Dem Wortlaut nach ist dieser Bann ein Aufruf zum Völkermord, und damit wahrlich befremdend und abstoßend. Es sind solche alttestamentlichen Gewaltschilderungen, die der christlichen Überlegenheitshermeneutik dienen, nach der das Alte Testament Gewalt und Vergeltung predigt, während das Neue Testament Frieden und Versöhnung fordert. Doch diese Lesart, so zeigt Klara Butting, missversteht die Bedeutung des „Bannes“, bei dem es nicht um die Vernichtung von Menschen geht, sondern um die eigenen gewalttätigen Gewohnheiten, Abhängigkeiten und Strukturen. Diese müssen vernichtet und ausgelöscht werden, bevor neues Leben und Gemeinschaft entstehen können.
Der Aufruf zur Vernichtung der sieben imaginierten „Völker“ – da sind sich alle alttestamentlichen Expert*innen einig – beschreiben keine historischen Vorgänge. Diese „Völker“ haben niemals existiert. Sie stehen als Codes für Gewalterfahrungen der Unterdrückung, mit denen sich die Kinder Israels identifizieren sollen. Ausgehend von Psalm 129 zeigt Klara Butting, dass sich die Kinder Israels mit dem Leiden und der Unrechtserfahrung versklavter Kinder identifizieren sollen, um sich am Aufbau einer gerechten und befreiten Gemeinschaft im verheißenen Land zu beteiligen. Nur wer die Perspektive der Opfer einnimmt und die Sklaverei, Ausbeutung und Unterdrückung abgründig hasst, erfreut sich auch aus ganzem Herzen der Verheißungen Gottes.
Der Aufruf zur Vernichtung der „Völker“, so Butting, ist eine Einladung zum Identitätenwechsel als Vorbedingung für eine neue Identität auf der Seite der Gerechtigkeit Gottes. Erst der radikale Bruch mit vergangenen Abhängigkeiten und Sicherheiten macht eine neue Gemeinschaft möglich. Deshalb sind diese ersttestamentlichen Gewalttexte auch für heutige Identitätsdebatten relevant.
In unserer Reihe Antisemitismuskritische Bibelauslegungen stellen wechselnde Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten.
Klara Butting ist apl. Professorin für Altes Testament und Biblische Theologie an der Universität Bochum und Mitherausgeberin der Zeitschrift Junge Kirche. An der Bibel in gerechter Sprache war sie als Übersetzerin beteiligt.
Erschienen am 11.05.2023
Aktualisiert am 12.07.2023