Jesus hatte Hunger
Über die Verfluchung des Feigenbaums
Es gibt in der gesamten Hebräischen Bibel keine Stelle, an der das Volk Israel mit einem Feigenbaum verglichen wird. Warum also im Markusevangelium (Mk 11,11-25), in dem steht, dass Jesus einen Feigenbaum verflucht? Die Schweizer Neutestamentlerin Luzia Sutter Rehmann lenkt den Blick auf den ersten Satz der Geschichte, der grundsätzlich übersehen wird: „Es hungerte ihn“! Sie fragt nach der Bedeutung eines Feigenbaumes für die jüdische Bevölkerung im ersten Jahrhundert, die sich nach Jahren römischer Besatzung und einem verheerenden Krieg nur noch von dem ernähren können, was die Bäume abwerfen. Aber, so heißt es bei Markus weiter: „Es war nicht die Zeit für Feigen“! Damit bleibt der Hunger Jesu. Mit der Verfluchung des Feigenbaums setzt er ein Zeichen gegen den Hunger und gegen das geduldige Warten auf bessere Zeiten. Sutter Rehmann macht klar: Es geht in dieser Geschichte nicht um die Verurteilung Israels, auch nicht um die des Tempels, oder gar der jüdischen Religion. Mit ihrer sozialgeschichtlichen Hermeneutik öffnet die Theologin den historischen Horizont, der mit den antijüdischen Auslegungsgewohnheiten brechen kann.
In unserer Reihe Antisemitismuskritische Bibelauslegungen stellen wechselnde Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten.
Luzia Sutter Rehmann ist Befreiungstheologin. Sie lehrt Neues Testament als Titularprofessorin an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Sie übersetzte das Lukasevangelium für die Bibel in gerechter Sprache (2006).
Erschienen am 08.12.2023
Aktualisiert am 08.12.2023