„Selig sind die Unfruchtbaren“
Tania Oldenhage zur Gerichtsandrohung an Jerusalem
Droht Jesus den weinenden Frauen Jerusalems, wenn er auf dem Weg nach Golgatha sagt: „Weint nicht um mich, sondern weint um euch selbst und um eure Kinder. Denn es kommen Tage, da wird man sagen: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gestillt haben“?
Lange wurde diese Stelle als Gerichtsandrohung und Bestrafung Jerusalems verstanden. Diese Auslegung ist nicht nur historisch falsch, sondern verbietet sich nach der Schoa, die von einigen christlichen Exeget*innen noch viel zu lange danach als Strafe Gottes verstanden wurde. Oder drückt sich in dieser Passage das Mitleid Jesu mit den Frauen Jerusalems aus, die einen verheerenden Krieg mit Rom erleben müssen? Tania Oldenhage interpretiert Lukas 23,28-29 im Lichte der Literatur von Holocaust-Überlebenden, die von der extremen Gewalterfahrung von Müttern und Säuglingen berichten.
In unserer Reihe Antisemitismuskritische Bibelauslegungen stellen wechselnde Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten.
Tania Oldenhage ist Pfarrerin in Zürich. Sie promovierte in den USA und lehrte dort an unterschiedlichen Universitäten, bevor sie Gemeindepfarrerin in Zürich und Studienleiterin am Forum für Zeitfragen in Basel wurde. 2013 habilitierte sie an der Universität Basel und unterrichtet dort seitdem als Privatdozentin für Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments.
Buchveröffentlichungen: Neutestamentliche Passionsgeschichten nach der Shoah. Exegese als Teil der Erinnerungskultur. Kohlhammer 2014; Parables for Our Time: Rereading New Testament Scholarship after the Holocaust. Oxford 2002.
Erschienen am 09.06.2022
Aktualisiert am 12.07.2023