Wer ist der Nächste?
Anni Hentschel über das Gleichnis des barmherzigen Samariters
Nachdem Anni Hentschel mit dem antijüdischen Klischee vom hartherzigen Priester und Leviten einerseits und dem Samariter als leuchtendem Beispiel christlicher Barmherzigkeit und Nächstenliebe andererseits aufgeräumt hat, kommt sie zur eigentlichen Botschaft des Gleichnisses: einer radikalen Handlungsaufforderung! Drei Mal ist im Gleichnis vom Tun die Rede. Zuerst lobt Jesus die Antwort des Gesetzeslehrers auf die Frage nach dem ewigen Leben: „Liebe Gott von ganzem Herzen … und deinen Nächsten wie dich selbst“ als richtige Wiedergabe der Tora (Dtn 6,5 Lev 19,18). Er sagt: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben“ (Lk 10,28). Auf die daraus entstehende Frage, wer denn der Nächste sei, folgt die bekannte Erzählung über eine Zufallsbegegnung wildfremder Menschen auf einer gefährlichen Straße. Und der Nächste ist ausgerechnet der Fremde, der alle religiösen, nationalen und sozialen Grenzen überschreitet und „die Barmherzigkeit“ an dem Verletzten „tat“. Die Lektion der Geschichte „So geh hin und tu desgleichen“ (Lk 10, 37) ist heute so frappierend unangenehm wie damals.
In unserer Reihe Antisemitismuskritische Bibelauslegungen stellen wechselnde Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten.
Anni Hentschel ist Professorin für Neues Testament und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Ihre jüngste Publikation heißt Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie.
Erschienen am 17.01.2024
Aktualisiert am 17.01.2024