Zinsverbot und "jüdischer Wuchergeist"
Reiner Kessler über ein hartnäckiges antisemitisches Klischee
Juden werden nicht nur mit Reichtum, sondern auch mit Habgier und Pfennigfuchserei assoziiert– dieses tief verwurzelte antisemitische Klischee wird vom christlichen Unbehagen mit Geldgeschäften genährt, kann aber nicht mit der jüdischen Sozialgeschichte oder dem biblischen Zinsverbot erklärt werden. In seiner Auslegung des alttestamentlichen Zinsverbotes erklärt Rainer Kessler den Unterschied zwischen einem Notkredit (wenn ein „Bruder“ oder Nachbar verarmt, ohne Geld kein Saatgut kaufen kann und der Hungertod droht) und einem Geschäftskredit (wenn ein „Fremder“ oder Händler durch das Land reist, um Güter auf Kredit einzukaufen, sie dann anderswo verkauft und mit dem Profit den Kredit begleicht). Kessler unterstreicht: Das biblische Zinsverbot gilt für Notkredite, aber nicht für die Finanzierung von Handelsgeschäften.
Später, als die Kirche selbst Geld brauchte, um Zukunftsprojekte zu finanzieren, wurden mancherorts jüdische Finanziers eingesetzt, allerdings gab es auch immer christliche Banker. Dabei fiel es den kirchlichen und landesherrschaftlichen Obrigkeiten immer leichter, den Hass von Schuldnern und Steuerzahlern auf die jüdischen Geldgeber als „Wucherer“ zu lenken.
In unserer Reihe Antisemitismuskritische Bibelauslegungen stellen wechselnde Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten.
Prof. Dr. Rainer Kessler war Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Professor für Altes Testament an der Universität Marburg. Seit 2010 ist er im Ruhestand.
Erschienen am 08.12.2023
Aktualisiert am 08.12.2023